Geschichten aus dem Schwemmsandland. Brigitte Schubert
*
Die Kartoffeln
Es soll wohl tatsächlich so gewesen sein, dass die dümmsten Bauern die größten Kartoffeln ernteten. Die gewaltigsten Knollen unter ihnen waren von unvorstellbarer Größe. Lilafarben waren sie und schmeckten leicht nussig. Man erzählt, die größte Kartoffel hätte nicht einmal im riesigen Keller des Gutshofes Platz gehabt.
Es wird sicher nicht allein an der Kraft der Erde gelegen haben – so manch einer hatte bestimmt einen fleißigen Helfer an seiner Seite. Vielleicht gab es auch Kartoffel-Trolle mit knubbeliger Nase? Niemand weiß Genaues nicht! Was unwirklich erscheint, kann wahr sein, und was wahr ist, ist keine Lüge. Vielleicht redeten die kleinen Gesellen den Kartoffeln auf den umliegenden Feldern und Äckern zum Wachsen gut zu? Vielleicht aber auch verteilten sie Wachstumstabletten? Niemand weiß Genaues nicht!
Die Gehilfen wollten anscheinend keine Taler als Dank haben. Die Dorfbewohner und die Gutsherrin Marianne machten sich Gedanken, denn sie wollten viele Riesenknollen ernten, um nie wieder hungern zu müssen. Um die Kartoffel-Trolle bei guter Laune zu halten, eröffnete die Gutsherrin Marianne im Jahre 1847 einen Brennereibetrieb. Nicht nur den Trollen gefiel das sehr gut. Die Dorfbewohner kamen auf den Geschmack des klaren Erdapfelschnapses. Sie saßen nur noch in der Dorfschenke, prosteten sich zu, freuten sich des Lebens und alles ging drunter und drüber. Es herrschte keine Ordnung mehr im Dorfe, aber alle hatten gute Laune.
Wie sollte das Chaos nur enden? Niemand weiß Genaues nicht! Das Land lag brach, keiner hatte die Felder bestellt und der Kartoffelvorrat neigte sich dem Ende. Nur die riesigste Riesenkartoffel war noch vorhanden. Die Gutsherrin Marianne stellte unter großem Widerstreit den Brennereibetrieb ein. In der Nähe war eine größere Stadt und sie verkaufte die Riesenknolle stückweise an die Leipziger Bürger, für die lilafarbene Kartoffeln eine feine Delikatesse waren. So kam wieder Geld in die Ortskasse, die Dorfbewohner wurden nüchtern und das Chaos wurde beendet.
Eigentlich war es eine schöne Zeit. Ob sie mal wiederkommt? Um sie nicht zu vergessen, lassen sich die Dorfbewohner immer mal wieder einen Grund zum Feiern einfallen. Selbst die kleinste Knolle ist ein Fest wert.
Aber: Niemand weiß Genaues nicht!
*
*
Der Kirchturm zu Schönefeld
Es gibt geheimnisvolle Orte und Orte, die ein Geheimnis haben. Manches Geheimnis wird mitunter nie entdeckt.
So soll sich, als die Parthen-Trolle Besuch von ihren Verwandten aus dem hohen Norden bekamen, Folgendes zugetragen haben.
Weil der Schulmeister Pögner ein furchtbar nettes Mannsbild war, quartierten sich heimlich fünf der besagten nordischen Trolle bei ihm ein. Sie hatten einen Riesenhunger und verputzten außer Brot und Butter auch eine Flasche Wein, zwei Flaschen Branntwein, fünf Flaschen Bier und eine dicke Bratwurst.
In den nächsten Tagen, da es sich herumgesprochen hatte, bedienten sich weitere hungrige Trolle an vorzüglichen Braten, Semmeln, sechs Flaschen roten Weins und drei Flaschen des Branntweins. Lehrer Pögner wunderte sich über die fast leere Speisekammer, konnte es sich aber anfangs noch nicht schlüssig erklären. Den esslustigen Gästen reichte das jedoch längst noch nicht.
Die nimmersatten Trolle begannen alles aufzuessen, was zu bekommen war. Für Lehrer Pögner gab es nur einen einzigen Ausweg ... Langsam ahnte er etwas von den Trollen und glaubte, dass sich die nordischen Gäste bei ihm besonders wohlfühlten. Nur Manieren besaßen sie offenbar keine. Morgens fand er die Überbleibsel stets im ganzen Haus verteilt, die geleerten Flaschen, die letzten Stückchen von der Wurstpelle und manchen Fettklecks auf dem Fußboden. Trotz seiner Gutmütigkeit und Gastgeberfreude schlachtete Lehrer Pögner vorsichtshalber das Schwein, das er wie viele Schulmeister zu dieser Zeit gehalten hatte, und versteckte es in geräuchertem Zustand in der schmalen Kirchturmspitze.
Da es bereits Herbst war und die Tage ungemütlich frisch, wurden von den Trollen mannshohe Lagerfeuer auf den umliegenden Feldern aufgestapelt und angezündet. Dafür schleppten sie Bretter, Stroh, Äste und sogar ganze Bäume aus dem Dorf zum Acker am Dorfrand hinüber. Nur Schulmeister Pögner, weil er eben ein so netter Mann war, wurde von Bitten nach Brennholz und Ähnlichem verschont.
Er hatte inzwischen eine noch ungewöhnlichere Einquartierung erhalten, nämlich sieben Fleischer mit einer Herde Vieh, die auf dem Gottesacker bei der Kirche stand. Eine kurze Zeit über durfte Lehrer Pögner die Kühe für sich melken, sodass er mehr Milch hatte als der reichste Bauer im Dorf. Auch das sprach sich in Windeseile bei den schlemmenden Trollen herum.
Es dauerte nicht allzu lange und es besuchten inzwischen sage und schreibe 12.000 Trolle Schönefeld, das Dorf, in dem der Schulmeister Pögner nur 650 Nachbarn hatte. Die Plündergesellschaft schleppte alles weg, was es im Dorf noch an Holz, Stroh und Lebensmitteln gab. Sie waren unverschämt und versuchten, alles zu nehmen. In der Schule fand ein Troll einen Topf mit Pflaumenmus, den die Lehrersfrau versteckt hatte. Er wollte ihn gegen Brot tauschen, das die Pögner-Familie selbst nicht mehr hatte. Daraufhin drückte er dem verdutzten Lehrer den Mustopf in die Hand und erklärte, ohne Brot sei das Mus nichts nütze. Von dem Schwein in der Kirchturmspitze ahnte er nichts.
Der Lehrer Pögner hielt während des Troll-Besuches im Ort tapfer aus. Das geräucherte Fleisch verbarg er vor fremden Zugriffen in der bereits erwähnten Spitze des Kirchturmes. Dorthin gelangte der Schulmeister mit einer besonderen Leiter. Nur er wusste das und niemand sonst. Also hatte die hohe Kirchturmspitze ihr Geheimnis.
Das Fleisch war sicher, glaubte der nette Lehrer Pögner. Wenig später allerdings soll ein großer Brand durch Funkenflug von den Lagerfeuern auf den benachbarten Feldern entstanden sein. Von den 67 Häusern des Dorfes waren fast alle völlig runtergebrannt und die restlichen unbewohnbar. Außerdem wurden der Herrenhof, die Schäferei und die Wassermühle zerstört. Leider musste dabei Lehrer Pögner erleben, wie sein Schatz in der Kirchturmspitze ebenso ein Opfer der lodernden und gefräßigen Flammen wurde.
*
Schönefeld - 18.Oktober 1813
Ich stehe an der Parthe.
Das Wasser fließt dahin.
Ich denk an ferne Tage,
an Kriegsruf, Not und Klage.
Das kommt mir in den Sinn.
Im Jahre 1813,
erklang hier‘s Schlachtsignal.
Es starben ach, so viele.
Im Dorf, am Kirchenhügel,
da stand ein Flammenmal.
Weil einer wollt‘ beherrschen,
das halbe Weltenrund,
drum knallten die Kanonen,
der Ort zum Leben, Wohnen,
versank als Höllenschlund.
Etienne, aus Bourdeaus Straßen,
Iwan, von der Moskwa,
marschierten sich entgegen,
durch Rauch und Kugelregen
und fanden hier ihr Grab.
Schwör euch, so lang ich atme,
so lang das Herz mir schlägt,
wird nichts vergessen werden.
Ruht weiter, in der Erde
und schlaft den ewigen Schlaf.
*