Kakanien oder ka Kakanien?. Группа авторов
Musil spricht davon, dass man zwar Unsummen für die Armee ausgab, aber doch die zweitschwächste der Großmächte blieb. Im europäischen Vergleich lagen vor dem Ersten Weltkrieg die Staatsausgaben in absoluten Zahlen im Deutschen Reich am höchsten, gefolgt von Russland, Großbritannien, Frankreich und Österreich-Ungarn, pro Kopf lag Österreich-Ungarn hinter Deutschland, Großbritannien und Frankreich, auch hinter der Schweiz, aber noch vor Russland. Österreich-Ungarn hatte hohe Kosten für die Bedienung der Staatsschuld zu tragen (21 % der Gesamtausgaben) – die Folgen früherer kriegerischer Engagements (vgl. Hickmans 1905, 29). In der Heeresstärke im Frieden lag Österreich-Ungarn gemeinsam mit Großbritannien an vierter Stelle (hinter Russland, dem Deutschen Reich und Frankreich), im Kriegsfall konnte Kakanien aber erheblich mehr Mannschaften mobilisieren als Großbritannien – das dafür auf dem Meer als unschlagbar galt (203 Panzerschiffe, Österreich-Ungarn: 20). Jedenfalls rangierte Österreich-Ungarn aber überall vor Italien (offensichtlich hat Musil genau dies gemeint) (vgl. ebd., 35).
Nur kurz zum Thema der Überseeaktivitäten, die im Zeitalter des Imperialismus alle europäischen Staaten unternahmen, Kakanien jedoch nur in bescheidenem Maße: „Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft“ – wir denken da sofort an die bekannte Fahrt der Fregatte Novara (1856–59) (vgl. Ortner 2011). Nun hatte Kaiser Franz I. schon 1806 eine ganze Reihe wichtiger Exponate aus der Sammlung von James Cook in London erwerben und nach Wien bringen lassen. Es gab also auch im kontinentalen Wien durchaus ein Interesse an den neuen Erkenntnissen, die sich aus diesen Reisen ergaben – und an den oft pittoresken Details, mit denen man natürlich auch ein wenig prunken konnte. Unbedingt erwähnen muss man in diesem Zusammenhang die Reisen Johann Natterers in Brasilien. Er begleitete 1817 die Kaisertochter Leopoldine auf ihrer Reise nach Brasilien zwecks Verehelichung mit dem brasilianischen Thronfolger Dom Pedro. Die sehr sorgfältig geplante Reise erbrachte etwa 150.000 Objekte, Tiere und noch viel mehr Pflanzen oder geologische Stücke, die nach Wien gelangten und heute noch zu den zentralen Beständen des Naturhistorischen Museums gehören. Natterer blieb 18 Jahre in Brasilien. Er schickte nach Wien: 1.146 Säugetiere, 12.193 Vögel, 32.825 Insekten, 1.729 Gläser mit Eingeweidewürmern, 1.621 Fische und 1.800 Ethnografica (vgl. Riedl-Dorn 2011). Wir könnten auch an die bekannte Ida Pfeiffer denken, diese mutige Weltreisende, die aber privat und nicht im öffentlichen Auftrag unterwegs war.7
Zurück zur Novara. Auch diese Weltumseglung war sehr sorgfältig vorbereitet worden, die Geographische Gesellschaft, die Akademie der Wissenschaften, die Geologische Reichsanstalt, die Gesellschaft der Ärzte und die Zoologisch-Botanische Gesellschaft wirkten mit. Ein eigener Zeichner, Joseph Selleny, von dem überaus zahlreiche schöne Blätter erhalten sind, fuhr mit. Die Novara brachte 26.000 zoologische Exponate mit, 376 ethnographische Stücke, unzählige konservierte organische Dinge usw. Sie befinden sich größtenteils im Naturhistorischen Museum.
Wir denken ferner an die Arktis-Expedition von Peyer und Weyprecht (1872– 1874), die zwar nicht zum Nordpol führte, aber doch sehr weit in den hohen Norden kam und außerdem eine eigene Inselwelt entdeckte – das Franz Josefs-Land (vgl. Rack 2011). 1978 wurde eine Flaschenpost, die Weyprecht 1872 dem Meer übergeben hatte, von einem russischen Forscher entdeckt.
Die Weltreise des Thronfolgers Franz Ferdinand könnte ebenso unter diese Schiffsexpeditionen fallen – auch wenn sie in erster Linie der Gesundung des Erzherzogs diente. 1892/1893 hatte Franz Ferdinand auf ärztlichen Rat mit großem Gefolge eine Weltreise auf einem Kriegsschiff der österreichisch-ungarischen Marine unternommen. Man erklärte die Reise zur wissenschaftlichen Expedition, um so den wahren Zweck der Reise in den Hintergrund zu rücken. Die Reise führte von Triest nach Indien, Indonesien, Australien, Japan, Kanada und Nordamerika. Sie war auch als Sammlungsunternehmung so erfolgreich, dass sie die Grundlage für das heutige Wiener Weltmuseum bot. 14.000 ethnologische Objekte dieser Reise befinden sich heute noch dort. – Genug damit!
Bürger oder nicht Bürger:
Staatsbürgerschaft und Heimatberechtigung
Wie sieht es aus mit den staatsbürgerlichen Rechten? Musil widmet dieser Frage genau einen merkwürdigen Satz: „Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger.“ (Musil 2016a, 49)
Kann man das so stehen lassen? Es bestand seit dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch 1812 eine „österreichische Staatsbürgerschaft“ für alle Menschen in jenen Ländern, in denen dieses Gesetzbuch galt (also nicht in Ungarn!). Im Neoabsolutismus kam mit der Einführung des ABGB die gemeinsame Staatsbürgerschaft auch für Ungarn.
Mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 wurde die Sache getrennt, und war nun eindeutig: Die Bewohner der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ hatten alle die österreichische Staatsbürgerschaft. Sie waren also staatsbürgerschaftlich „Österreicher“. Aber was soll der Nebensatz heißen, dass eben nicht alle Bürger waren? Spielt er vielleicht auf adlige Privilegien an, auf die Ungleichheit der Kaiserfamilie (sie unterstand ausschließlich der Gerichtsbarkeit des Kaisers!)? Wir wissen es nicht. Möglich wäre, dass Musil auf ein anderes, gesellschaftlich allerdings brennendes Problem verweist: das Heimatrecht bzw. die Zuständigkeit.
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft hingen nämlich eng zusammen: Nur österreichische Staatsbürger hatten das Heimatrecht, und nur wer irgendwo im Kaiserstaat heimatberechtigt ist, konnte auch österreichischer Staatsbürger sein. Die leibliche Abstammung von einem Gemeindemitglied begründete die Heimatberechtigung, auch die Verehelichung – Frauen folgten hier dem Mann. Heimatberechtigung erlangten auch öffentliche Beamte an ihren Dienstorten. Die Gemeinden konnten die Aufnahme in den Gemeindeverband auch ausdrücklich aussprechen – was sie vermutlich ganz gern bei eher vermögenden Leuten machten. Der Status des Staatsbürgers war also engstens mit der Heimatberechtigung in einer bestimmten österreichischen Gemeinde verbunden:
Die im § 2 des Heimatsgesetzes 6/XII/63 R. (=Reichsgesetzblatt) 105 zum Ausdrucke gebrachte Wechselbeziehung des Heimatsrechtes und des Rechtes der Staatsbürgerschaft bringt es jedoch mit sich, daß nur eine in einer Gemeinde des Staates heimatsberechtigte Person Subject des Rechtes der Staatsbürgerschaft sein kann, sowie andererseits nur österr. Staatsbürger das Heimatsrecht in einer inländischen Gemeinde erlangen können. (Pražák 1897, 1067)
Damit der Sachverhalt nicht zu einfach ist, unterschied man zwischen „Gemeindeangehörigen“, denen das Heimatsrecht zustand, und „Gemeindegenossen“, die in der Gemeinde ein Gewerbe ausübten oder ein Grundstück besaßen, aber nicht heimatberechtigt waren. Beide Kategorien zusammen waren die „Gemeindemitglieder“. Wahlberechtigt in der Gemeinde waren beide Kategorien, aber nur die Heimatberechtigten konnten ohne Rücksicht auf ihre Steuerleistung dann in einem höheren Wahlkörper wählen, wenn sie eine höhere Bildung genossen oder aber ein öffentliches Amt bekleidet hatten (vgl. Blodig 1896, 72 und 75)
Das Heimatrecht verleiht das Recht auf ungestörten Aufenthalt. Im Prinzip konnte man ja seit den Staatsgrundgesetzen 1867 allerorten leben und wohnen, wie es einem beliebte, Arbeit suchen usw. Ein Problem tat sich auf bei Arbeitslosigkeit und folgender Armut, oder bei Armut infolge einer dauerhaften Erkrankung. Da es keine Arbeitslosenversicherung gab und die Unfall- und Krankenversicherung bis 1888 höchst rudimentär ausgebildet war, stellte sich die Frage, wer solche Personen zu erhalten hatte: Das war nun nur die Gemeinde, in der die betreffende Person heimatberechtigt war! Diese Verbindung von Heimatrecht und ,Armenpflege‘ geht schon auf das 16. Jahrhundert zurück, auf die Polizeiordnung Ferdinands I. aus dem Jahre 1555 (vgl. Mischler 1895, 65)8. Die Zuständigkeit zur Heimatgemeinde wurde also ausgerechnet dann schlagend, wenn der Staatsbürger (die Staatsbürgerin) sich woanders als an diesem Heimatort aufhielt und dabei das Pech hatte, zu erkranken, invalid, alt und arbeitsunfähig zu werden. Das hatte zur Folge, dass man im Verarmungsfalle in seine Heimatgemeinde abgeschoben wurde, die man vor Jahren oder Jahrzehnten verlassen hatte, weil es dort keine ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten gab. Das Schubwesen war daher ein ständiger Diskussionspunkt in Politik und Verwaltung der späten Habsburgermonarchie (vgl. Mischler 1896). Solange es keine ausreichende Sozialversicherung gab, konnte sich die Aufenthaltsgemeinde ihrer