Kakanien oder ka Kakanien?. Группа авторов
nach der Versicherung, der Autor wolle kein Historienbild malen (wir haben oben darauf hingewiesen!), verweist er darauf,
[…] daß die Geheimnisse des Dualismus (so lautete der Fachausdruck) mindestens ebenso schwer einzusehen waren wie die der Trinität; denn mehr oder minder überall gleicht der historische Prozeß einem juridischen mit hundert Klauseln, Anhängseln, Vergleichen und Verwahrungen, und nur darauf sollte die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Ahnungslos lebt und stirbt der gewöhnliche Mensch zwischen ihnen, aber ganz und gar zu seinem Heil, denn wenn er sich darüber Rechenschaft geben wollte, in was für einen Prozeß, mit welchen Anwälten, Spesen und Motiven er verstrickt ist, könnte ihn wahrscheinlich in jedem Staat der Verfolgungswahnsinn packen. (Musil 2016a, 270 f.)
Ja, so gemein konnte Musil sein – zuerst macht er uns neugierig, wie es mit diesem „Staatsgefühl“ wirklich aussah, dann flüchtet er sich in seine glänzende Ironie. Und wir stehen da und wissen wieder nichts. Tatsächlich gab es ja damals noch keine entwickelte Sozialforschung, und anders als im späten 20. Jahrhundert haben wir keine Ergebnisse von Umfragen über österreichisches, ungarisches oder gar österreichisch-ungarisches Staats-oder Nationalbewusstsein. Wir können daher nur in der überreichen damaligen Publizistik oder in den zahllosen seither erschienenen Büchern nachlesen, was es zu diesem Thema alles gibt, und das ist in der Tat sehr viel. Eine recht präzise Zusammenfassung bietet Gerald Stourzh in dem von uns schon eingangs zitierten Aufsatz. Danach gab es für praktisch alle Ungarn, die ein „Staatsgefühl“ hatten, immer nur Ungarn als Gegenstand ihrer Identifikation und Verehrung. Auf Grund einer verwickelten Vorgeschichte musste dieses heilige Ungarn 1867 einen König akzeptieren, dessen Armee noch 1849 gemeinsam mit den Russen die freiheitsliebenden Ungarn niedergezwungen hatte. Nachdem jener aber einige Kriege verloren hatte, musste er sich zu Verhandlungen mit den Ungarn bequemen, die zum so genannten „Ausgleich“ führten, worauf ihn die Ungarn krönen ließen und weiterhin als legitimen König akzeptierten. Dass dieser König daneben auch noch Kaiser von Österreich war und neben Ungarn noch eine Reihe anderer Königreiche und Länder regierte, konnte man vernachlässigen, viel schlimmer für den ungarischen Nationalstolz war aber die Tatsache, dass man im „Ausgleich“ einige mit jenen Ländern gemeinsame Institutionen zugestanden hatte, etwa eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Armee. Diese Gemeinsamkeiten zu reduzieren oder ganz zu beseitigen, war seit 1867 das Ziel der leidenschaftlichsten Ungarn, die sich gerade deswegen bei Wahlen auch immer mehr durchsetzten.1
Der Frage des kollektiven Bewusstseins in Kakanien widmet sich Musil auch in einem weiteren Kapitel (Nr. 98) mit dem schönen Titel ,Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist‘:
Man tut heute so, als ob der Nationalismus lediglich eine Erfindung der Armeelieferanten wäre, aber man sollte es auch einmal mit einer erweiterten Erklärung versuchen, und zu einer solchen lieferte Kakanien einen wichtigen Beitrag. Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königliche österreichische. Ihr begreiflicher Wahrspruch angesichts solcher Schwierigkeiten war „Mit vereinten Kräften!“ Das hieß viribus unitis. Die Österreicher brauchten aber dazu weit größere Kräfte als die Ungarn. Denn die Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, – es gab nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile, Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. Die Hose Österreich hieß seither in der amtlichen Sprache „Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“, was natürlich gar nichts bedeutete und ein Name aus Namen war, denn auch diese Königreiche, zum Beispiel die ganz Shakespeareschen Königreiche Lodomerien und Illyrien gab es längst nicht mehr und hatte es schon damals nicht mehr gegeben, als noch ein ganzer schwarz-gelber Anzug vorhanden war. Fragte man darum einen Österreicher, was er sei, so konnte er natürlich nicht antworten: Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, die es nicht gibt, – und er zog es schon aus diesem Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der sogenannte Nationalismus. Man stelle sich ein Eichhörnchen vor, das nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist, ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehen, daß es unter Umständen vor seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in solchem Verhältnis zu einander befanden sich aber die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Schrecken von Gliedern, die einander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu sein. Seit Bestehen der Erde ist noch kein Wesen an einem Sprachfehler gestorben, aber man muß wohl hinzufügen, der österreichischen und ungarischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie widerfuhr es trotzdem, daß sie an ihrer Unaussprechlichkeit zugrunde gegangen ist. (Musil 2016b, 218–220)
Die rot-weiß-grüne Jacke und die schwarz-gelbe Hose bieten ein schönes Bild für das Unvereinbare, das in der Habsburgermonarchie zusammengefügt war – es passte schon ästhetisch nicht zusammen. Würde man nach den Gründen dieser Unvereinbarkeit suchen, dann müsste man wohl ein paar weitere Musil’sche Paradoxien finden: Der österreichische Teil war kleiner als der ungarische – aber er war reicher bevölkert und wirtschaftlich höher entwickelt. Die Österreicher zahlten daher auch mehr als die Ungarn zu den gemeinsamen Angelegenheiten – aber die Ungarn waren darüber keineswegs froh, sondern wollten eigentlich möglichst gar nichts Gemeinsames, vor allem forderten sie beharrlich eine eigene, von der österreichischen getrennte Armee. Die Ungarn profitierten vom Wiener Kapital, das die ungarische Industrialisierung finanzierte (Komlos 1986, 77–136) – aber gleichzeitig nannten sie es mit Abscheu „fremdes“, ausländisches Kapital. Sie fühlten sich von Wien furchtbar ausgebeutet – aber die Geschlossenheit der ungarischen Eliten verschaffte ihnen bei Verhandlungen mit den Wiener Regierungen immer erhebliche Vorteile, so dass sie immer wieder ihre Wünsche und Forderungen durchsetzen konnten. Dabei ging es stets um die Anerkennung der selbstständigen ungarischen Staatlichkeit nach außen, was sich durch die eigene Unterschrift ungarischer (und österreichischer) neben den gemeinsamen Ministern in internationalen Verträgen äußerte (vgl. Stourzh 20002).
Zur faktischen Unvereinbarkeit Ungarns mit den westlichen Kronländern der Monarchie hat Alphons Lhotsky eine sehr kluge Beobachtung beigesteuert (vgl. Lhotsky 19683). Er verwies auf einen Aufsatz von Otto Hintze, der schon vor Jahrzehnten auf einen grundlegenden Unterschied zwischen den aus dem Karolingerreich entstandenen kontinentalen europäischen Staaten und den ringsumher liegenden „Randstaaten“ wie England, Schweden, Polen oder Ungarn hingewiesen hatte (vgl. Hintze 1929). In diesen „Randstaaten“ hatte sich nicht der karolingische Feudalismus durchgesetzt, sondern eine andere Staatsauffassung erhalten, die vor allem durch eine sehr starke Position des Adels und ein Fortbestehen der adeligen Selbstverwaltung in den regionalen Einheiten (Grafschaften, Komitaten) bis ins 19. Jahrhundert gekennzeichnet gewesen sei. Tatsächlich blieb in Ungarn eine große Zahl von Adeligen bestehen, in einem viel höheren Prozentsatz als in den westlichen Kronländern. Die westlichen Länder der Habsburger waren hingegen alle einmal Teil des Frankenreichs gewesen und hatten die kontinentaleuropäische Feudalentwicklung durchgemacht, die auf lange Sicht zu einer starken Reduzierung des Adels und zu seiner funktionellen Ablösung durch eine fürstliche und später staatliche Bürokratie geführt hatte. Dieser grundlegende Unterschied wurde von den Habsburgern bis Maria Theresia wohl nicht analysiert, aber respektiert. Seit Joseph II. war es mit dem Respekt vorbei, der Spätabsolutismus wollte die Ungarn genauso behandeln wie den Rest der Monarchie. Das misslang, einerseits wegen der schieren Größe des historischen Königreiches