»Vielleicht muss man auf eine Mikroebene gehen, auf Lehr-Lernprozesse, die optimaler sind in bestimmten Settings. Dann kann man eher vergleichen, als jetzt das Gesamtsystem: Auch auf dieser Mikroebene ist es nötig, das Personal zu verstärken und auf relativ kleine Gruppen zu reduzieren. Das muss dann auch finanziert werden, weil in der ökonomischen Logik sonst andere finanzielle Leistungen folgen. Das kann man auch hochrechnen: Wenn manchmal zwei Lehrer in einer Klasse Unterricht machen, können in bestimmten Situationen Einzelpersonen oder kleine Gruppen immer wieder aufgefangen werden und sie werden nicht abgehängt oder ignoriert.«
Ewald Kiel:
»Ich habe da neulich einen interessanten Vortrag von meinem amerikanischen Kollegen Terry Osborne aus Sarasota in Florida gehört. Der sagt, die Antwort auf diese globalen Probleme, die wir eigentlich haben, auf die Globalisierung, ist eine Mikrokontextualisierung, dass sich kleine Kontexte organisieren und wissen, was für diese kleinen Kontexte gut ist. Und ich glaube, das gilt auch für Inklusion, dass man kleinere Einheiten schafft, die sich selber organisieren, dort Regelsysteme, Organisationsformen einrichtet, um Kinder zu fördern und das im Rahmen einer Angebotsstruktur. Und ich fand diese Idee des Wortes ›Mikrokontextualisierung‹ eigentlich eine schöne, die da in dem Vortrag zum Ausdruck kam.«
Ulrich Heimlich:
»Ich wollte noch ergänzen, was ich mitgenommen habe, eben aus den Reisen in die skandinavischen Länder, das war so eine gehörige Portion Pragmatismus, mit der da vorgegangen wird, auch gerade im Zusammenhang mit inklusiven Angeboten im Bildungssystem. Da wird dann gesagt: ›Wenn das nötig ist für einen Schüler, eine bestimmte Maßnahme separat aus dem Klassenzimmer heraus zu organisieren, dann wird das gemacht.‹ Aber das wird mit einer hohen Flexibilität gemacht. Und das kann man zum Beispiel auch auf dieser Mikroebene, sozusagen von anderen Systemen, durchaus lernen. Ich denke, dass wir sozusagen als nächsten Schritt im Bildungssystem auch so eine Flexibilisierung benötigen, gleichsam eine Suche nach pragmatischen Lösungen. Was ist jetzt machbar unter den gegebenen Bedingungen? Und eben nicht weitere ideologisch gefärbte Debatten, die sich mehr im Grundsätzlichen bewegen, ohne konkrete Lösungen anzubieten. Das ist ein hoher Anspruch. Das ist letztlich, und damit kommen wir schon fast zum Ende unserer Gesprächsrunde, natürlich auch ein Anspruch, der sich an uns stellt, als Vertreter von drei wissenschaftlichen Disziplinen, Allgemeine Pädagogik, Schulpädagogik, Sonderpädagogik. Was heißt das denn für unsere Zusammenarbeit im Bereich der wissenschaftlichen Strukturen? Sie haben das angesprochen, Herr Tippelt, mehr Kooperation in der Sonderpädagogik, aber eigentlich gilt das ja auch für andere wissenschaftliche Disziplinen.«
Rudolf Tippelt:
»Ja, auch weil Sie mich jetzt direkt angesprochen haben, also natürlich: Ja, der Meinung bin ich nach wie vor. Sie wissen es besser, Herr Heimlich, aber auch so viel wie möglich Kooperationen in der Sonderpädagogik. Aber ich erwähnte vorher auch schon die ›Kooperation der pädagogischen Teilbereiche‹. Wir haben hier in München die sehr stark ausdifferenzierte Grundschulpädagogik, die Schulpädagogik, aber auch die Weiterbildung und teilweise die berufliche Bildung, die damit zusammenhängt. Kooperation der Sonderpädagogen sollte auch mit diesen Feldern verstärkt werden. Dann eben auch die Kooperation mit den aufgeschlossenen Medizinern, vielleicht oder auch mit Psychologen, die in diesem Feld tätig sind und interessiert sind. Man könnte auch zu Sozialpädagogen Kontakt aufnehmen, die noch einmal einen anderen Blick auf Bildungseinrichtungen haben. Das ist der Aspekt der Kooperation, also der multiprofessionellen Kooperation, die man auch schon in der Ausbildung stärker betreiben kann, als wir es derzeit begonnen haben. Es ist schon so, dass die Einzeldisziplinen nicht mehr isoliert voneinander wirken. Sie haben ein Buch mit anderen Disziplinvertretern gemeinsam gemacht, sie haben Projekte zusammen erarbeitet, wir schreiben jetzt ein Buch zusammen und ich habe mit Herrn Markowetz etwas Gemeinsames gemacht und so weiter. Also das sind durchaus Dinge, die vor 2010 nicht oder kaum stattfanden. Ich will das noch einmal wiederholen, Kooperation hat sich intensiviert. Es hat, finde ich, eigentlich schon eine positive Signalwirkung.«
Ewald Kiel:
»Wir haben jetzt gerade an der LMU durch die Qualitätsoffensive Lehrerbildung einen großen Impuls in dieser Richtung bekommen, wo gerade auch Mediziner, wie Herr Schulte-Körne etwa, ein Online-Seminar über Störungsbilder entwickeln, wo die Fachdidaktiken etwas tun, wo über andere Formen der Praktikumsgestaltung nachgedacht wird. Und man sieht aber an einem großen ›Laden‹ wie der LMU auch, wie schwierig das ist, mit knapp 60.000 Studierenden und ich weiß nicht wie vielen Professoren, das zu organisieren. Die Lehrerbildung ist ja auch ein Bereich mit 16 Fakultäten, die daran beteiligt sind, und der Koordinationsaufwand ist ein großer. Ich bin dafür, die Wände einzureißen, aufeinander zuzugehen, zu kooperieren, aber an einer großen Universität wie unserer ist das deutlich schwieriger als an einer Universität, von der ich ursprünglich komme, der Pädagogischen Hochschule (PH) Heidelberg, wo es gerade einmal 4.000 Studenten gegeben hat und jeder jeden beim Kaffee in der Mensa begrüßen konnte und jeder jeden beim Namen kannte.«
Ulrich Heimlich:
»Genau, wir haben es eben schon angesprochen, zum Beispiel ist auch die Zusammenarbeit mit den Fachdidaktiken in diesem Zusammenhang ganz wichtig. Das merkt man eben auch im Rahmen des Projektes Lehrerbildung@LMU, dass hier Rahmenbedingungen da sein müssen, die so etwas unterstützen. Das heißt, die Umsetzung der Inklusion in der Hochschule benötigt entsprechende Unterstützung und entsprechende Strukturen, um das auf den Weg zu bringen. Wir können versuchen, auf einer persönlichen Ebene zusammenzuarbeiten, aber in diesem Projekt haben wir jetzt Mitarbeiter, die diesen Dialog in Gang setzen. Wir entwickeln mit den Fachdidaktiken zusammen Filme und Materialien für eine Reihe von Veranstaltungsformaten zur Inklusion. Da habe ich schon das Gefühl, dass das Thema Inklusion einfach eine Plattform bietet, auf der mehr Zusammenarbeit möglich ist, so nehme ich das jedenfalls wahr. Und insofern habe ich eigentlich die Hoffnung, dass wir es schaffen, auch dieses Signal auszusenden in Bezug auf zukünftig pädagogisch Tätige. Es darf sich eigentlich niemand mehr komplett aus dem Thema herausnehmen. Also meine Idee ist tatsächlich: Es darf zukünftig niemand mehr sagen: ›Das ist nicht mein Thema, und ich bin dafür nicht ausgebildet.‹ Wir müssen versuchen, alle pädagogischen Fachkräfte auf die Inklusion vorzubereiten.«
Rudolf Tippelt:
»Es ist wichtig, dass wir einen langen Atem haben, das hatten Sie, Herr Kiel, auch schon einmal angesprochen. Es darf keine Mode sein, sich für inklusive Bildung mal sechs Jahre zu interessieren und danach machen wir, was sicher auch wichtig ist, Integration für Migranten. Und wir handeln das dann nicht mehr unter Inklusion ab und die Inklusion von Behinderten haben wir vergessen. Aber dann kommt die nächste Mode, ach Gott, was haben wir schon für Moden erlebt! Wir müssen dicke Bretter bohren – und die Inklusion ist so eines. Also auch dann, wenn die Öffentlichkeit nicht mehr so aktiv Notiz davon nimmt, muss Inklusion ein institutioneller Auftrag bleiben. Da sind sowohl die ethische Basis als auch die praktischen Erfahrungen und die jetzt schon erkennbaren Evaluationsergebnisse Rückenwind genug, um weiterzumachen. Aber es ist mir wichtig hervorzuheben – man braucht einen langen Atem, gerade wenn nicht fortwährend unmittelbar öffentlich davon gesprochen wird. Wir leben in einer Welt, in der die Themen, auch übrigens die Bildungsthemen, sehr schnellen Veränderungen ausgesetzt sind.«
Ulrich Heimlich:
»Ich glaube, der Hinweis auf die Moden und die Modebewegungen in der Pädagogik, Schulpädagogik, Sonderpädagogik ist ein gutes Schlusswort. Inklusion darf keine Modeerscheinung sein, sondern wird uns hoffentlich noch lange beschäftigen. Ich danke an dieser Stelle meinen Gesprächspartnern für den Austausch.«