FREMDE HEIMAT. Petra E. Jörns

FREMDE HEIMAT - Petra E. Jörns


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      War das noch wichtig? Was war überhaupt noch wichtig angesichts dessen, dass fast hundert Prozent der Menschheit eliminiert worden waren? Wie viele Exemplare brauchte man eigentlich, damit eine Art überleben konnte? Ob fünfzig reichten? Mehr hatten sie nicht an Bord. Oder waren dafür mehrere Tausend nötig, wie an Bord der Antarctica?

      Wie konnte da irgendein vernünftiger Mensch von Gegenschlag faseln? Mussten die Überlebenden nicht vielmehr alles tun, damit es keine weiteren Verluste gab? Sie konnten es sich nicht erlauben, auch nur einen einzigen Mann zu verlieren. Wenn das jemand begriff – dann war es Nishimura.

      »Entgegen allen Gerüchten – die Nachricht ist nicht gefälscht«, begann Delacroix. Mit einem Knopfdruck fuhr er die transparente Kommandotafel vor seinem Ende des Besprechungstisches aus der Decke. Eine zweidimensionale Abbildung des bekannten Raums mit einigen Sprungvektoren erschien darauf. Es waren diejenigen, die Alan vor einer halben Stunde ermittelt hatte.

      »Wir befinden uns hier, in der Nähe von Syrakuse.« Delacroix zeigte auf einen roten Punkt. Bevor die Irhog Syrakuse erobert hatten, war er blau gewesen. Das Gleiche galt für Epsilon 5, Paradise, den Mars und die Erde. »Die Antarctica muss sich dort, am Rande des Pferdekopfnebels befinden, hinter der Grenze des Krail-on-Raums. Wir würden drei bis vier Wochen brauchen, bis wir dort sind, je nachdem welche Sprungroute wir wählen. Aber selbst wenn wir der Antarctica eine Nachricht schicken, dass wir kommen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie am Ursprungsort der eingegangenen Nachricht vorfinden, verschwindend gering. Denn wir können den Hyperfunk zwar auf den Ursprungsort ausrichten, aber wenn die Antarctica ihn wieder verlassen hat, kann es Wochen dauern, bis er sie erreicht. Ob die Antarctica dann zum Ursprungsort zurückkehren kann, bevor uns die Energiereserven ausgehen oder die Irhog uns finden, ist mehr als fraglich. Meinungen?« Delacroix blickte in die Runde.

      Racek, der Chief, meldete sich als Erster zu Wort. »Selbst wenn wir soviel Energie sparen, wie uns möglich ist, bleibt uns am Zielort nur eine Woche, bis die Reserven erschöpft sind. Verflucht wenig Zeit, um die Antarctica zu finden, wenn Sie mich fragen, Sir.«

      Himmel, wie konnte er das so leidenschaftslos sagen, wunderte sich Alan.

      »Wie ich schon wiederholt betonte –« White reckte sich bei den Worten, sodass ihr die schwarzen Haare ums Kinn strichen. »– sollten wir einen weiteren Versorgungsstützpunkt ansteuern. Es ist das Risiko wert. Wenn wir noch länger zögern, haben wir keine Chance. Sir.«

      White, die Giftspritze, dachte selbst jetzt noch nur daran, sich zu profilieren.

      Der Commander schien gewillt, dies zu ignorieren. Stattdessen sah er die Ärztin an.

      Hayes seufzte. »Also wenn Sie mich fragen, ist es völlig gleichgültig, was wir tun. Die Hauptsache ist, dass wir etwas tun. Wenn wir weiterhin in diesem Zustand der Apathie verharren, werden weitere Selbstmorde nicht ausbleiben. Aber das habe ich Ihnen bereits vor einer Woche gesagt.« Sie strich über die Tischplatte. »Es tut mir leid, Sir.«

      Warum hatte Hayes nicht an diese Entwicklung gedacht, bevor Katsuko …

      Delacroix fixierte die Kommandotafel.

       Bushido.

      Alan zog sein Notepad aus der Tasche. Es war schwerer, als er es in Erinnerung hatte. Seine Finger strichen über das Display. Tat er das Richtige? Oder hatte er sich da in etwas verrannt?

      »Wo ist Mister Mabuto?«

      Alan sah auf. Tatsächlich, Mabutos Stuhl zu Delacroix’ Linken war unbesetzt.

      »Doktor Hayes?«

      »Sir.« Hayes steckte eine rote Locke in den schief sitzenden Knoten an ihrem Hinterkopf. »Ich glaube nicht, dass dies der Rahmen ist, um über Mister Mabutos … Probleme zu diskutieren. Wir haben bereits darüber gesprochen. Sie kennen meine Meinung dazu.«

      »Bei allem Respekt. Sie wissen, dass ich sein Verhalten nicht länger dulden kann. Wenn Sie es ablehnen, Konsequenzen zu ziehen, dann werde ich es tun. Überlegen Sie, was besser für ihn ist.« Die Miene des Commanders wurde eisig.

      »Ja, Sir«, erwiderte Hayes und verschränkte die Arme vor der Brust.

      »Noch irgendwelche Vorschläge?« Delacroix blickte zu den Plätzen am unteren Ende des Tisches, wo Dean, Alan und Nguyen saßen, bevor er ohne Umschweife fortfuhr. »Misses White, welchen Stützpunkt schlagen Sie vor?«

      Jetzt oder nie.

      Alan räusperte sich. »Sir, mit Verlaub. Aber ich hätte noch einen Vorschlag zu machen.« Das Notepad schien Tonnen zu wiegen.

      White hob die Augenbrauen.

      Der Commander musterte Alan, bevor er ihm zunickte. »Nur zu, Lieutenant.«

      Mit einem Schnauben lehnte sich White zurück. Ihr rechter Zeigefinger klopfte mit der Schnelligkeit eines Sekundenzeigers auf den Tisch.

      »Wir sollten die Krail-on um Hilfe bitten. Wenn wir den Kursvektor B nehmen, kreuzen wir ohnehin ihren Raum. Es wäre sicherlich aussichtsreicher, als einen Versorgungsstützpunkt aufzusuchen. Die Irhog kennen vermutlich alle Standorte. Entweder sind die Stützpunkte leer oder die Irhog warten dort auf uns.«

      »Sir?« White wartete die Antwort des Commanders nicht ab. Sie fixierte Alan mit honigsüßem Lächeln, während ihr Finger zu klopfen vergaß. »Sicherlich erinnern Sie sich daran, dass der Erstkontakt scheiterte, Mister McBride. Was macht Sie so sicher, dass wir es besser können?«

      »Weil ich glaube, dass Doktor Bolden nicht gescheitert ist. Er hat von einem ihrer Anführer eine Einladung erhalten, wurde aber zurückbeordert, weil ihm die Mittel gekürzt worden waren.«

      »Oh! Dann machen Sie also die Erdregierung für Doktor Boldens Misserfolg verantwortlich.« Whites Finger fuhr fort zu tappen.

      »Misses White, bleiben Sie bei der Sache.« Delacroix hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »Sind Sie fertig, Mister McBride?«

      »Nein, Sir.«

      Dean schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Aber Alan ignorierte ihn geflissentlich.

      »Wir haben eine Übersetzungsdatei an Bord und alle Daten, die Doktor Bolden damals gesammelt hat. Er gibt darin klare Anweisungen, wie bei einem Kontakt mit den Krail-on zu verfahren ist. Und er schlägt sogar Handelsgüter zum Aufbau einer Beziehung vor. Schokolade, Gewürze und die Daten von Rohstoffvorkommen. Alles Dinge, die wir entbehren können.«

      »Sie wollen die Krail-on also mit Schokolade bestechen. Eine amüsante Vorstellung.« White lachte.

      Miststück!

      Alan sah die Erste Offizierin herausfordernd an. »Mit Verlaub, Ma’m. Aber es erscheint mir aussichtsreicher, als in einen Hinterhalt der Irhog zu stolpern.«

      Augenblicklich schoss White in die Höhe. »Ihr Verhalten ist impertinent, Lieutenant. Ein Versorgungsstützpunkt …«

      »Misses White!«, mahnte der Commander schneidend. Dann wandte er sich mit starrer Miene an Alan. »Geben Sie mir Ihre Daten, Mister McBride. Ich werde darüber nachdenken.«

      Alans Hand lag auf dem Bedienpanel des Schotts, das zum Bereitschaftsraum des Commanders führte. Er zögerte.

      Hatte er sich wirklich nichts zuschulden kommen lassen bei der Besprechung? Er sollte Vorschläge machen. Er hatte White nicht übergangen. Das konnte ihm niemand vorwerfen.

      Der Commander würde ihm das sicherlich nicht unterstellen. White schon. Aber White konnte ihn ohnehin nicht leiden. Immerhin, das beruhte auf Gegenseitigkeit.

      Oder wusste der Commander etwa, dass er alle Doppelschichten übernahm, anstatt Pola die Hälfte zu überlassen? Aber von wem sollte er davon erfahren haben? Mabuto hatte es bestimmt nicht bemerkt – der bemerkte ohnehin nichts mehr – und hätte White es herausbekommen, hätte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Alan höchstselbst zur Schnecke zu machen.


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