BOHÈME. Jonas Zauels
„Kunst wird erst dann interessant, wenn wir vor irgendetwas stehen, das wir nicht gleich restlos erklären können.“
Christoph Maria Schlingensief – Film- und Theaterregisseur –
IMPRESSUM
AUTOR: Jonas Zauels
TITELFOTO: Katharina Freitag
LEKTORAT: Dana Polz
GESTALTUNG & SATZ: Gerhard Mohler
VERLAG: edition federleicht, Frankfurt am Main www.edition-federleicht.de
1. Auflage 2020
© edition federleicht
ISBN 978-3-946112-58-7
E-BOOK ISBN 978-3-946112-64-8
Jonas Zauels
BOHÈME
Roman
Für R. und C.
INHALT
„Die Kunst ist zwar nicht das Brot, aber der Wein des Lebens.“
Jean Paul – Schriftsteller –
EINS
Frankreich. Ausgerechnet Frankreich. Nein. Paris. Ausgerechnet Paris. Die Stadt der Liebe, der Einzigartigkeit, der Kunst und des Verlangens.
Der Nebel liegt schwer über dem Land, als das Flugzeug langsam schwankend aufsteigt. Eine kleine Bergkette ragt wie Eis aus dem dunklen Wasser der Wolken. Am Horizont leuchtet die aufgehende Sonne verhängnisvoll rot, während sich das warme Blut allmählich auf die Wolken verteilt. Auf der einen Seite ist noch Nacht, auf der anderen schon Tag.
Der Grund, warum ich in diesem Flieger sitze, ist mir eigentlich genauso fremd, wie die Menschen um mich herum. Ein fetter, bärtiger Mann sitzt zu meiner Rechten, eine schneeweiße Schönheit zu meiner Linken. Mit Fensterblick, selbstverständlich. Zusammengepfercht, zwischen dem Handgepäck der Frau und den Rettungsringen des Mannes wackele ich unruhig hin und her. Mein erster Flug. Überhaupt meine erste richtige Reise. Und dann gleich alleine. In eine fremde Stadt, mit einer fremden Kultur, so weit fort von allem Bekannten, von den wenigen Freunden, von der Familie, von den vertrauten Ecken und Vierteln der Heimat. So fern von allem, was ich jemals war und jemals vorgegeben habe zu sein.
Der Tag ist gerade erst geboren. Dunkle Wolken schieben sich über den Horizont, während das Flugzeug sich mit ohrenbetäubender Energie immer weiter gen Himmel zieht, als wäre es selbst aus Pappe. Leicht wie eine Feder, wie ein Vogel dem Himmel entgegenstrebend, scheinbar alle Naturgesetze aufhebend. Außerhalb jeglicher Schwerkraft, gleiten wir sanft tobend ins unendliche Schwarzblau, wie eine Hummel, die doch eigentlich viel zu fett fürs Fliegen ist.
Jetzt weiß niemand mehr, wer ich bin. Das trifft sich doch nicht schlecht, da ich mich in den letzten Wochen, oder schon viel länger, selbst nie recht gefunden habe.
„Man kann nicht wissen, wer man ist, ohne zu wissen, was man will”, hat meine Mutter immer zu sagen gepflegt.
So klar wie der Himmel, wie das Blau, wie das unerreichbar Fremde über unseren Köpfen, den Köpfen der Menschen, die ihre eigene Größe im Kosmos niemals verstehen mögen, so klar scheint auch die Erkenntnis des Unwissens über meine kleine, unbedeutende Person. Aber ja! Wer weiß das schon mit zarten neunzehn Jahren. Wer weiß da schon genau, wohin man geht und woher man kommt. Wer weiß da schon mehr mit sich anzufangen als über oberflächliche Probleme zu diskutieren, über andere Personen, über Vorlieben und Dinge, die man aus den verschiedensten Gründen nicht ausstehen kann. Über Hobbys, über das Aussehen. Über Musik, Make-Up und falsche Wimpern.
Ich sitze also hier. Quasi ohne Persönlichkeit. Oder vielmehr ohne gesehene Persönlichkeit. Ich habe natürlich eine. Eine wilde, junge, ungezähmte und leidenschaftliche Persönlichkeit. Ja. Nein. So sollte es vielleicht sein in meinem Alter. Ehrlich gesagt kann ich das nicht wirklich bestätigen oder überhaupt