BOHÈME. Jonas Zauels
einer schimmernden Ritterrüstung, die mir leider gar nicht bekannt vorkommt, bis ich schließlich in einem Innenhof lande. Um mich herum blüht es in hundert Farben; ein leises Plätschern verrät den kleinen Brunnen in der Mitte. Die Luft ist herrlich frisch und warm.
„Natürlich braucht man auch einen Innenhof“, murmele ich gedankenverloren vor mich hin.
„Mademoiselle Fontaine, wo bleiben Sie denn?“
Ich drehe mich erschrocken um. Vor mir steht die Haushälterin, deren Name ich vergessen habe. Ich bin mir im ersten Moment nicht sicher, ob sie wirklich mich meint.
„Ach, ich – ich, ähm, ich hab mich hier irgendwie verlaufen.“
„Nun los! Kommen Sie schon, die Herrschaften warten bereits! Haben Sie denn Ihre Sonntagsgarderobe nicht an?“
Ich folge nervös, ohne auf die rhetorische Frage einzugehen. Jetzt gleich wird es soweit sein. Ich werde meine falschen Gasteltern kennenlernen. Was ist, wenn sie wissen, wie Florence, die echte Florence, aussieht? Ich stelle mich darauf ein, gleich wieder hinauszufliegen. Das Missverständnis wird man auf Verständigungsprobleme schieben können, auf ein falsches Schild vom Taxifahrer oder Ähnliches. Die Haushälterin geht mit bestimmtem Schritt durch die verzweigten Flure, als wäre sie in ihrem Leben nie woanders gewesen. Ich folge ihr scheu und staune nicht schlecht, als wir plötzlich in einem prächtigen Saal mit ungreifbar hohen Decken stehen. In der Mitte ist eine Tafel angerichtet; an ihr sitzen ein Mann, eine Frau und ein Mädchen, das ungefähr in meinem Alter sein wird und überraschenderweise genauso wenig ins Bild passt wie ich. Alles ist prunkvoll und prächtig gestaltet. Die bemalten Fenster erinnern an Kirchenfenster, lassen dennoch genug Licht hinein, um den Saal hell erstrahlen zu lassen. An den Wänden hängen weitere goldgerahmte Bilder. In der Ecke steht eine meterhohe Standuhr, die ein gemächliches Ticken von sich gibt, während das Pendel unbeirrt von Seite zu Seite schwingt.
„Florence! Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen!“ Der bleiche Mann steht eilig auf, schmeißt dabei fast seinen großen Holzstuhl um. Er küsst mich energisch auf die Wangen; die Knochen unter der Haut treffen unangenehm aufeinander. Dann geleitet er mich zu einem leeren Stuhl und bittet freundlich darum, dass ich mich setze. „Ich bin Gabriel Dupont, und das ist meine liebe Frau Camille. Camille Dupont, quasi das Herz dieser schönen Einrichtung.“
„Es freut mich sehr …“, bringe ich gerade noch über die Lippen, als der munter gestimmte Mann schon fortfährt: „Und das ist unsere entzückende Tochter Laetitia. Sie ist einundzwanzig, also genau so alt wie du, nicht wahr?“
„Ja klar, genau“, stimme ich zögernd zu und habe damit zu meinem neuen Namen auch noch ein neues Alter. Neunzehn oder einundzwanzig – macht auch keinen großen Unterschied mehr. Das Mädchen sieht viel jünger aus. Außer einem flüchtigen Blick – womöglich Ausdruck ihres Erstaunens – scheint sie gelangweilt und desinteressiert.
„Aber Kind, was hast du denn nur mit deinen Haaren angestellt? Wir werden dir eine Perücke besorgen müssen“, platzt es aus Madame Dupont heraus, die mich abschätzig begutachtet. Im Kontrast zu ihrem Mann wirkt sie sehr jung und im Gegensatz zu seinen weichen Gesichtszügen, beinahe wie versteinert.
„Nicht doch, aber nein, meine liebe Frau. Du weißt doch wie die Jugend ist, das ist sicher gerade so im Trend bei euch, richtig Florence?“, wendet sich der gutmütige Mann wieder an mich.
„Richtig“, stammle ich und muss mir unwillkürlich meine Freunde aus der Heimat mit kurzgeschorenen Haaren vorstellen.
„Ich finde das nicht so komisch“, antwortet die Hausherrin auf mein unfreiwilliges Lächeln. „Die Jugend muss auf die Eltern hören. Und dazu gehört es auch, anständig herumzulaufen. Nicht wahr, Laetitia?“
„Ja, Mama. Ich werde später mit Florence ein paar feine Klamotten besorgen.“
Laetitia ist ein hübsches Mädchen in grauen, fürchterlich charakterlosen Klamotten. Die dunklen Haare sind sorgfältig zurückgekämmt und mit einem farblosen Haarreif fixiert. Sie scheint, wie alle hier, in vergangener Zeit stecken geblieben zu sein. Nur die schwarzen, frechen Augen passen nicht zu der biederen Erscheinung.
„Sehr gut“, fällt wieder der Vater ein. „Lasst uns frühstücken, es ist schon spät.“
Ich weiß nicht genau, ob die Tochter naiv und dumm oder doch gerissen ist, vergesse den Gedankenzug jedoch schnell wieder, als ich das großzügige, büffetartige Frühstück auf dem Tisch realisiere.
„Nun Florence, hattest du eine angenehme Reise?“, wendet sich Monsieur Dupont wieder an mich und mustert mich etwas zu intensiv für meinen Geschmack.
„Aber ja, sie war erträglich.“ Ich fühle mich unwohl in dieser fremden Umgebung, unter einem falschen Namen. Bei jeder Frage erwarte ich, aufzufliegen und gleich wieder weggeschickt zu werden. Doch das restliche Frühstück verläuft, zu meiner Beruhigung, eher schweigsam. Nachdem die Mutter Laetitia und mich für den Nachmittag verabredet hat, werde ich von der Haushälterin wieder in mein Zimmer geleitet.
Ich richte mich ein bisschen ein. Nicht zu sehr, damit ich, wenn nötig, schnell wieder packen und abreisen kann. Viel habe ich ja ohnehin nicht dabei. Eine heimliche Abreise schwebt mir schon seit dem Morgen im Kopf herum. Bevor ich mich hier verzettele, werde ich schon irgendetwas anderes finden. Doch das Bett mit den weichen Kissen zieht mich in seinen Bann, ehe ich einen Plan fassen kann. Überhaupt – wie sollte ich jemals den Weg aus diesem Labyrinth finden?
Schläfrig wälze ich mich in den purpurfarbenen Laken. Florence. Ja, vielleicht ist das ja genau der richtige Weg, um mich hier einzuleben. Ein paar Tage in dem prächtigen Haus, dann werde ich mir etwas Neues suchen. Man muss Kontakte knüpfen. Die Stadt kennenlernen. Pariser Luft schnuppern.
Um Punkt drei klopft es. Ich muss eingeschlafen sein. Zumindest weiß ich nicht, wie die letzten Stunden so schnell vergehen konnten. Ich schlürfe zur Tür und öffne sie, bemüht einen weniger verschlafenen Eindruck zu machen. Laetitia steht ungeduldig vor mir. Ganz in elegantem Schwarz gekleidet, sieht sie plötzlich gar nicht mehr so mäuschenhaft aus, sondern – ganz im Gegenteil – wie eine geschmackvolle Dame. In gleicher Weise erwachsen und jugendlich. Eine schwarze Bluse mit dezenten Spitzen geht fast nahtlos in eine breite, tiefschwarze Schlaghose über, worunter hochhackige Schuhe in derselben Farbe hervorragen und Laetitia die Möglichkeit geben, von oben auf mich herabzublicken.
„Na guck nicht so verdutzt, die Eltern sind aus dem Haus.“
Als sich auf meinem Gesicht wohl immer noch keine Besserung zeigt, fügt sie hinzu: „Wie siehst du eigentlich aus?“
Mir wird bewusst, dass ich völlig zerknittert im Bademantel vor ihr stehe und es mir tatsächlich unangenehm ist.
„Komm doch rein, ich mache mich schnell frisch“, sage ich und realisiere schon im Sprechen, dass das ja eigentlich nicht mein Zimmer ist. „Oder, keine Ahnung, ist das angebracht? Immerhin wohnst du hier und nicht ich.“
„Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd, ich hab dir was mitgebracht, zieh ich eh nicht mehr an. Das Geld von Mama können wir besser nutzen als es für deine Klamotten auszugeben.“
Sie reicht mir eine schwarze Stoffhose, die mir bis zum Bauchnabel reicht und wohl bei jeder beliebigen Figur die Hüfte unvorteilhaft betonen würde. Darüber ein weißes Hemd und ein schwarzer Cardigan, der für das Wetter eigentlich ein bisschen zu warm ist.
Ich finde, ich sehe knabenhaft aus. Laetitia bezeichnet es als burschikos und meint, das wäre gerade voll im Trend oder so. Ob sie das ernst meint oder mich bloß vorführen will, weiß ich nicht genau, ist mir letztendlich aber auch gleichgültig.
„Sag mal, wegen deiner Eltern, bist du –?“, frage ich vorsichtig.
„Was denkst du denn?“, handelt Laetitia das offensichtliche gleich ab.
„Also gut, wo gehen wir hin?“, frage ich, als ich mich so gut wie möglich zurechtgezupft habe und das Mädchen schon ihre dritte Zigarette in einem Blumentopf ausdrückt. Bei der ersten habe ich mir gedacht, ist ja nicht mein Zimmer, bei der zweiten, ich schlafe