BOHÈME. Jonas Zauels
aussehenden Mann, der hereingeflogen kommt und gleichzeitig etwas auf ein Stück Pappe schreibt. Ein letzter Hoffnungsschimmer glüht in mir auf, doch als der Mann das Schild unsicher herumwedelnd vor sich hält und suchend um sich blickt, lese ich, in undeutlichen Lettern geschrieben: Florence.
„Immerhin nah dran“, sage ich leise zu mir selbst und seufze. Ich packe mir meine Tasche auf den Rücken und gehe mit leicht gesenktem Kopf Richtung Tür.
„Mademoiselle, Mademoiselle, so warten Sie doch!“, hallt es mir in einem indischen Akzent nach. Unsicher drehe ich mich um und sehe, wie der Mann mit dem Schild freudestrahlend auf mich zugelaufen kommt. Ich weiß nicht, ob ich weglaufen oder schreien soll und bleibe aus Unschlüssigkeit bewegungslos stehen.
„Mademoiselle Florence? Ich soll Sie abholen. Zu Besuch bei Familie Dupont, Florence Fontaine richtig?“
„Florence?“
Er streckt mir etwas stolz, etwas unschlüssig sein Schild entgegen. Dabei scheint es mir recht verwunderlich, dass er ausgerechnet mich zu erkennen glaubt, obwohl ich doch ganz anders aussehe als die anderen. Trotzdem bin ich erleichtert, auch, wenn ich weder Florence noch Fontaine heiße, noch zu irgendeiner Familie Dü-irgenwas will.
„Ja, Florence natürlich, das bin ich“, sage ich zögerlich.
„Ja, ganz offensichtlich, kommen Sie, ich nehme Ihr Gepäck, mein Taxi steht gleich da vorne.“
Ich rede mir ein, dass Florence zu früh angekommen ist und jetzt als Felicia herumläuft und steige ein bisschen zu bereitwillig in das fremde Taxi.
„Ein Familienbesuch, ja? Tolle Stadt, viele Eindrücke. Wirklich toll“, erzählt mein Taxifahrer.
„Ich freue mich so, hier zu sein, ich habe ja schon so viel Schönes über Paris gehört“, rattere ich den zurechtgelegten Satz herunter. Danach schweigen wir beide.
Die Fahrt dauert zwanzig Minuten. Obwohl es mitten in der Nacht ist, stecken wir ständig im Verkehr fest. Wir fahren schließlich eine lange, gewundene Auffahrt entlang und halten vor einem imposanten Gebäude. Der Taxifahrer bemüht sich, mir gleichzeitig die Tür aufzuhalten und mein Gepäck aus dem Kofferraum zu hieven. Ich bedanke mich freundlich und bin mir nicht sicher, ob ich etwas bezahlen muss oder ein Trinkgeld angemessen wäre. Deshalb drücke ich ihm ein Snickers in die Hand, das ich noch von der Reise übrig habe und drehe mich schnell in Richtung Haus. Überwältigt von dem Anblick der prächtigen Stadtvilla, die von einem weitläufigen Park umringt, mitten in Paris liegen muss, merke ich gar nicht, wie das Taxi langsam davonfährt und ich ganz alleine mit meiner Tasche im Dunklen zurückbleibe.
„Verdammt, Florence, du hast es ja mal richtig gut getroffen.“
Sommerwarm hängt die Luft über dem Anwesen, jagt mir leichte Schauer über den Rücken. Es dauert einige Minuten, bis ich mich traue, auf das weißsteinige Ungetüm zuzugehen. Vorsichtig steige ich die breiten Treppenstufen hinauf und erkenne über der Tür ein goldenes Schild mit der Aufschrift: Villa Dupont.
Zaghaft drücke ich auf das ebenso beschriftete, ebenso goldene Klingelschild und höre aus dem Inneren heraus eine weiche, tiefe Glocke läuten. Fast unmittelbar erhellen sich die großen Fenster und eine recht betagte Frau, ganz in schwarz gekleidet, mit ordentlich hochgestecktem Haar, öffnet mir die großen Türflügel.
„Madame Dupont?“, bringe ich unsicher über die Lippen, überzeugt davon, direkt wieder abgewiesen zu werden. Es ist mir äußerst unangenehm, mitten in der Nacht eine so vornehme Familie zu stören.
„Aber nein, nicht doch. Ich bin Marguerite, die Haushälterin. Die Herren und Damen Dupont schlafen bereits. Mademoiselle Fontaine, willkommen in der Villa Dupont. Ihr Gästezimmer ist bereits angerichtet“, bittet sie mich zu meiner Überraschung hinein. Für einen kurzen Augenblick denke ich, dass ich hier vielleicht doch richtig bin.
„Danke, ich wollte auch niemanden so spät wecken.“
„Aber nein, in den Schlafzimmern hört man die Klingel ja nicht. Folgen Sie mir bitte.“
Durch etliche Gänge und Flure, nach rechts und links, eine Treppe hinauf, durch große hölzerne Torflügel, vorbei an goldgerahmten Bildern und Statuen von vorwiegend antiken, nackten Männern gelangen wir endlich zu einer vergleichsweise unscheinbar wirkenden Türe.
„Hier ist es. Sollten Sie noch etwas benötigen, geben Sie einfach Bescheid. Frühstück gibt es morgen um acht Uhr, ich wünsche eine gute Nacht.“
„Danke“, presse ich überwältigt heraus und blicke der emsigen Frau hinterher.
Hinter der Türe befindet sich nicht das, was man gemeinhin unter Gästezimmer verstehen würde. Hinter der Türe wartet ein ganzes Appartement, bestehend aus einem Schlafzimmer, einem begehbaren Kleiderschrank, einem weiß strahlenden Badezimmer, das für sich genommen schon größer ist, als mein Zimmer zuhause, und nicht zuletzt einem Balkon mit Sicht auf den Park.
Ich hänge meine zwei Sweater, meine drei Shirts und zwei Blusen ordentlich in dem Kleiderschrank-Zimmer auf, blicke auf die übrigen dreiundneunzig leeren Kleiderbügel und schüttle belustigt den Kopf. In der Wellness-Oase aus weißem Keramik lasse ich heißes Wasser in die viel zu große Badewanne ein und kippe Unmengen duftender Öle und Seifen hinterher, bis sich große, leise knisternde Schaumburgen aufbauen. Vorsichtig gleite ich durch die Blasen in das heiße Wasser, merke, wie mein, durch die Reise verspannter Körper, sich langsam erholt. Benebelt, sinke ich immer tiefer hinein und schließe meine Augen. Man hört nichts, außer das unregelmäßige Ploppen der kleinen Schaumblasen. Ich fühle mich unwillkürlich in das 18. Jahrhundert zurückversetzt. Der Park, das Haus, die Gemälde und Statuen. Alleine die pedantische Haushälterin.
Florence. Ja: daran könnte ich mich gewöhnen. Ein schöner Name. Ein schönes Haus. Ein schönes Bad. Alles in mir befreit sich, löst sich auf, bis nichts mehr da ist. Mein Körper – verschwunden. Mein Geist treibt ohne Ziel durch den warmen Keramiksee.
ZWEI
Ein schriller Wecker klingelt. Ich drehe mich träge um, drücke mir ein samtweiches Kissen auf den Kopf. Das Klingeln will nicht aufhören. Genervt richte ich mich auf und schmeiße den Wecker auf den Boden. Ein letzter Klang, ein verstummender Schrei – dann ist es ruhig. Was soll das auch? Es sind Ferien. Weshalb aufstehen?
Ich versuche an meinen Traum anzuknüpfen. Eine große Villa. Ein Pferd. Ein Whirlpool voller Schaum. Wie schnell man so etwas doch wieder vergisst! Ein großes Frühstück. Ich bekomme unfreiwillig Hunger.
Wann habe ich das letzte Mal etwas Richtiges gegessen? Mein Bauch kämpft gegen meine Müdigkeit. Frühstück. Irgendetwas habe ich übersehen. Es kommt mir vor, als habe ich etwas wichtiges geträumt, und umso mehr ich versuche, daran zu denken, desto weiter rückt es in die Ferne.
Ich erschrecke. Senkrecht stehe, nein, senkrecht sitze ich im Bett. Frühstück. Um acht. Ich gucke mich um. Ein großes, hell erleuchtetes Zimmer liegt vor mir und ich in einem purpurfarbenen Bett. Durch die kreisrunden Fenster scheint grell die Morgensonne. Die Erinnerungen kehren langsamer zurück als mir lieb ist. Irreal wirkt alles um mich herum. Ich blicke verstört auf den Wecker am Boden, bin mir nicht sicher, ob ich ihn selbst gestellt habe oder jemand anderes.
Halb acht. Ich schäle mich mühselig aus dem Bett und gucke mich in dem großzügigen Zimmer um. Auf dem Boden liegt mein Bademantel; instinktiv ziehe ich ihn über, um nicht nackt in einem fremden Haus zu stehen. Er ist noch feucht von dem nächtlichen Bad. Die frische Kälte bringt mir Klarheit. Florence. Familie Dupont. Ich muss meine Rolle spielen, um nicht aufzufallen. Ich fühle mir über den Kopf. Kurze Stoppel begrüßen mich prompt. Richtig, die Haare sind ja ab. Im Kleiderschrank, sofern man das Schrank nennen kann, greife ich nach meiner weißen Bluse und schwarzen, engen Hose, in der Hoffnung, ins Bild zu passen.
Es ist fast Acht, als ich aus dem kleinen Appartement trete und einen langen Gang mit verschiedenen Türen vor mir finde. Angestrengt versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen, auf welchem Weg ich hier hingekommen bin und taste mich vorsichtig