Repression und Rebellion. Karim El-Gawhary

Repression und Rebellion - Karim El-Gawhary


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den Libanon oder nach Saudi-Arabien. Vieles von dem, was ich sehe, ist frustrierend, einiges traurig, anderes macht mich wütend, aber manches ist auch sehr ermutigend. Es ist ein Prozess, in dem sich Repression und Rebellion abwechseln und gegenseitig bedingen, in dem das Alte nicht mehr nachhaltig ist, das Neue sich aber noch nicht oder nur sehr schwer durchsetzen kann. Aber am Ende wird eine andere arabische Welt stehen. Der Weg dorthin ist blutig, chaotisch, verlustreich, aber auch kreativ und aufmüpfig, und er ist mit vielen Hoffnungen und Enttäuschungen gepflastert. Dieses Buch ist der Versuch, das große Ganze dieses Wandels zu erfassen.

      Doch manchmal sind es auch kleine Geschichten, die einen die Zusammenhänge besser verstehen lassen. Viele habe ich hautnah miterlebt. Deshalb beschreibe ich diesen Prozess mal aus dem analytischen Weitwinkel, mal anhand von Reportagen, die in die Lebenswelt der Menschen hineinzoomen. Etwa, wenn ein Straßenkehrer in Kairo ein Jahr nach dem Aufstand gegen Mubarak seine Hoffnungen beschreibt, oder wenn ich eine Visite in einem Waisenhaus in Bagdad schildere, in dem Kinder von gefallenen IS-Eltern spielen, deren kleine Seelen nach Heilung schreien – vielleicht die wichtigste Front des Antiterrorkampfes. Auch die jungen Demonstranten in Bagdad haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, wie sie nach jedem Angriff der Sicherheitskräfte immer wieder ihre Protestlager aufbauen, jeden Tag neue Tote beerdigen und trotzdem weitermachen.

      Wegen der Corona-Krise mussten sie ihre Proteste dann doch vorerst abbrechen und ich mit meinem Buchmanuskript innehalten. Die ersten Kapitel waren geschrieben, da geschah etwas fundamental Einschneidendes: Ein unsichtbares Virus veränderte nicht nur die arabische, sondern die ganze Welt. Wir stecken mittendrin in dieser Krise, von der niemand genau zu sagen vermag, wie lange sie dauern wird und wie groß die Auswirkungen am Ende sein werden. Es ist schwer, da einen Ausblick zu geben, wohin sich die arabische Welt entwickeln wird. Im letzten Kapitel versuche ich es trotzdem. Denn eines ist für mich so sicher wie das Amen in der Kirche oder der fünfmal tägliche Gebetsruf von den Minaretten: Alle Ursachen, die in diesem Buch beschrieben werden, die die Menschen vor der Pandemie auf die Straße getrieben haben, werden mit ihr nur verschärft. Sie wird vielen Arabern und Araberinnen endgültig die Luft zum Atmen nehmen, nicht nur als Krankheit, sondern noch mehr wegen der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. George Floyds Hilferuf „I can’t breathe“ ist eine tägliche arabische Erfahrung der Repression, aber auch der sozialen Machtlosigkeit. Die große Explosion im Hafen von Beirut, wenige Tage bevor dieses Buch in den Druck geht, ist hier vielleicht ein Kulminationspunkt. Die staatliche Fahrlässigkeit und die Inkompetenz hinterlassen die Libanesen fassungslos. Es ist ein Sinnbild für die Krise der gesamten Region.

      Im Januar 2016 besuchte ich die entlegene Stadt Sidi Bouzid im Südwesten Tunesiens, dort, wo sich etwas mehr als fünf Jahre zuvor der Straßenhändler Muhammad Bouazizi selbst angezündet hatte. Seine Verzweiflungstat war der traurige Flügelschlag eines Schmetterlings, der den Orkan der ersten Arabellion auslösen sollte. Am Rand des Ortes lag neben einer Reihe von Olivenbäumen der Friedhof, auf dem Muhammad Bouazizi begraben liegt. Über die südtunesische Steppenlandschaft wehte ein kalter Wind. Es ist ein schmuckloser muslimischer Friedhof, ebenso schmucklos wie der in den Boden eingelassene Grabstein, auf dem sein Name steht und der sich durch nichts von den benachbarten Gräbern unterscheidet. Sein Tod aus Verzweiflung war der Beginn der Hoffnung für Millionen Araber auf ein besseres Leben, dachte ich mir, als ich mich für ein paar Minuten neben sein Grab auf den Boden setzte.

      Zwischen einer alten und einer neuen Ordnung in der arabischen Welt findet ein andauernder Kampf statt, ein Kampf um die Rolle der Religion in der Politik, ein Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit, ein Kampf, Millionen Menschen aus ihrer Armut zu holen. Muhammad Bouazizis Tod hat einen Prozess ausgelöst, dessen letztes Kapitel auch zehn Jahre nach seinem Tod noch lange nicht geschrieben ist. Nein, die arabische Welt ist nicht im Winter eingefroren, sie ist mitten in einem spannenden Prozess des Wandels, und der ist nicht geradlinig. Europa nimmt die arabische Welt oft nur in kurzen, 1:30 Minuten langen Fernsehzuschaltungen wahr, in denen eine Akut-Situation beschrieben wird, in der gerade die Hütte brennt. Dieses Buch ist das Gegenteil. Es springt nicht von Ereignis zu Ereignis, es ist langsam, beschreibt Prozesse. Es schaut von oben, und es fährt mitten hinein.

      Die Realität des Nahen Ostens ist kompliziert, aber nicht so kompliziert, dass man sie nicht verstehen kann. „Al-Sabr Gamil“, zu Deutsch „Geduld ist schön“, lautet ein arabisches Sprichwort. Das ist vielleicht das beste Motto für die Leserinnen und Leser dieses Buches. Denn wer dieses Buch in die Hand nimmt, braucht ein wenig von dieser schönen Geduld. Es ist ein bisschen wie im Orient-Express von Agatha Christie mit Inspektor Poirot auf der Suche nach dem Mörder. Am Ende werden sich die Indizien, Spuren und Fäden zu einem klaren Bild und einem nahöstlichen Aha-Erlebnis zusammenfügen.

      Aber für die geduldigen Menschen der Region gilt noch etwas anderes. „Jede Geduld hat ihre Grenzen“, lautet der Titel eines Liedes der verstorbenen ägyptischen Sängerin und Diva Umm Kulthum, das jede Araberin und jeder Araber kennt. Uns stehen stürmische Zeiten in der arabischen Nachbarschaft bevor. Ich hoffe, dass dieses Buch es schafft, den Kontext für die Leserinnen und Leser so herzustellen, dass sie die Dinge einordnen können, die in der Nahost-Region auf uns zukommen werden. Wenn dann dem Korrespondenten in Kairo demnächst bei einer Live-Schaltung nach 1:30 Minuten wieder einmal ins Ohr geflüstert wird, dass er zum Schluss kommen muss, und er entspannt seinen letzten Satz in die Kamera sprechen kann, weil er weiß, dass die Zuschauer auch den ungesagten Rest der Geschichte kennen – dann hat dieses Buch seinen Zweck erfüllt.

       Kairo, am 7. August 2020

       Ägypten zurück, Tunesien nach vorn

      Am 11.2.2011 stand ich nach 18 Tagen Aufstand mit Tausenden Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Der Diktator Hosni Mubarak hatte gerade abgedankt. Überall wurde gefeiert, gesungen und getanzt. In meinem Kopf musste sich die Nachricht aber erst noch langsam setzen. Der Mann, der Ägypten schon regierte, als in Österreich noch Bruno Kreisky und in Deutschland Helmut Schmidt im Amt waren, er war Geschichte. Es waren Tage der Zuversicht. Wir alle standen euphorisch auf dem Tahrir und dachten, die Zukunft Ägyptens und der gesamten arabischen Welt werde nun friedlich und demokratisch ausgehandelt.

      Die Wirklichkeit erwies sich als viel komplizierter und meist enttäuschender. Auch im benachbarten Libyen hatten sie den Diktator, Muammar Al-Gaddafi, bald gestürzt. Doch das Land brach in einem Krieg der Milizen auseinander, in dem es viele Jahre lang keine Sieger, dafür ein ganzes Land als Verlierer geben sollte. In Syrien hatte Baschar Al-Assad von den Umstürzen bei seinen Diktatoren-Kollegen gelernt, nicht lange zu zögern, sondern sofort auf die Demonstranten schießen zu lassen. Das Land versank in einen Bürgerkrieg, der als abschreckendes Beispiel dafür diente, wie gefährlich der Versuch sein kann, mit den alten Strukturen zu brechen. Und dann waren da noch die Golfstaaten. An ihnen ging der Kelch des arabischen Wandels zunächst vollkommen vorüber, weil sie alle Widersprüche mit Petrodollars zukleistern konnten. Die Hoffnungen auf friedlich und demokratisch ausgehandelte Veränderungen lasteten ausschließlich auf Ägypten und Tunesien.

      In beiden Ländern brach ein Wettstreit zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen politischen Konzepten aus: dem politisch-islamistischen Trend auf der einen und den Liberalen und Säkularen auf der anderen Seite. Aber dann nahmen die Entwicklungen in diesen beiden Ländern einen sehr unterschiedlichen Verlauf.

      In Ägypten ergriff das Militär die Gelegenheit, trat in einem politisch völlig polarisierten Land als Retter der Nation auf, riss die Macht an sich und schloss zunächst die Islamisten aus dem politischen System aus, um bald danach jeglichen Dissens zu kriminalisieren. Tunesien war zwar ebenso polarisiert wie Ägypten, schlug aber einen, auch nicht einfachen, demokratischen Weg ein, um die Widersprüche zu überwinden.

       Ägypten: Muslimbrüder versus Militär

      Während des Aufstandes gegen den Langzeitdiktator Hosni Mubarak im Januar 2011 machte am Kairoer Tahrir-Platz ein Witz die Runde. „Jemand hat Mubarak erzählt, dass sich die Menschen von ihm verabschieden wollen. Und Mubarak fragt: Ja, wo gehen sie denn hin?“ Doch es war Ägyptens Präsident Mubarak, der wenige Wochen später ging.


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