Repression und Rebellion. Karim El-Gawhary

Repression und Rebellion - Karim El-Gawhary


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in Großbritannien. „Irgendjemand hat ihn mit seinem Scharfschützengewehr ins Visier genommen und geschossen. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine anderen Schüsse um uns herum“, führte er weiter aus. Deane drehte sich noch zu ihm um und sagte, er sei getroffen worden. Dann sah man schon das Blut auf seiner linken Brust. Daniela Deane, seine Frau, schrieb später in der „Washington Post“: „Mein Mann war ein einfaches Ziel für einen der Scharfschützen des ägyptischen Militärs, der ihn vielleicht von einem weit entfernten Dach ins Visier genommen hatte. Er war groß und blond und mit seiner schweren Fernsehkamera auffällig zwischen den Demonstranten. Ich glaube, die Sicherheitskräfte hatten einfach genug davon, ihn dort filmen zu sehen und haben beschlossen, ihn zu töten.“

      Wir harrten unterdessen weiter an der benachbarten Kreuzung aus. Noch war die Nachricht über den toten Kameramann, den wir gerade noch lebend verabschiedet hatten, nicht bis zu uns durchgedrungen. Wir warteten darauf, halbwegs sicher auf den Rabaa-Platz kommen zu können. Eine Frau kam vom Platz über die Straße gelaufen und schrie völlig aufgebracht: „Das sind Mörder, das sind Mörder“. Dann setzte sie sich auf den Mittelstreifen der Straße und hörte nicht mehr auf zu schluchzen. Vom Platz her waren zur gleichen Zeit fast im Minutentakt die Tränengasgranaten zu hören, die abgeschossen wurden. Immer wieder war auch das Peitschen von Gewehrschüssen auszumachen.

      Die Straße, in der zuvor das Fernsehteam von Sky News verschwunden war, wurde inzwischen von einem gepanzerten Fahrzeug des Militärs abgesperrt. Der Soldat am Maschinengewehr, das dem Fahrzeug aufgepflanzt war, sah stoisch in eine kleine Menge von Demonstranten, die „Nieder mit der Militärherrschaft“ riefen. Bald flogen auch hier die ersten Tränengasgranaten. Die Menge wurde immer wieder zerstreut, um kurz darauf wieder zurückzukommen, als die ersten Verletzten aus dem Protestlager getragen wurden. Immer wieder kamen Krankenwagen, die von den Militärs durchgelassen wurden, und fuhren Richtung Rabaa-Platz. Von dort stiegen inzwischen schwarze Rauchwolken auf. Wir, die wir draußen vor dem Platz standen, wussten, dass dort etwas Schlimmes passiert sein musste, hatten aber noch keine Ahnung vom blutigen Ausmaß dessen, was da auf dem Rabaa-Platz geschehen war.

      Kein anderes Ereignis in der neueren Geschichte hat die ägyptische Gesellschaft mehr gespalten. In anderen Teilen der Stadt jubelten manche Menschen, applaudierten und schwenkten ägyptische Fahnen. Später gratulierten der Innenminister und der Premier im Fernsehen der Armee und der Polizei für ihre ausgezeichnete Arbeit.

      Zwei Jahre später zog die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ein vernichtendes Fazit. „Es war weltweit in der neueren Geschichte einer der tödlichsten Einsätze gegen Demonstranten an einem einzigen Tag durch willkürliche und gezielte Gewalt von Sicherheitskräften“, schrieb sie in ihrem Untersuchungsbericht und nannte den blutigen Tag in Ägypten in einem Atemzug mit dem chinesischen Tiananmen-Massaker 1989, bei dem 400 bis 800 Demonstranten umgekommen sein sollen. Nach Zählung der Organisation sollen in Kairo am 14. August 2013 mindestens 817, wahrscheinlich aber über tausend Demonstranten innerhalb weniger Stunden erschossen worden sein.

      Human Rights Watch kam nach der Befragung von 200 Augenzeugen und der Sichtung von Videomaterial zu dem Schluss, dass die Polizei auf die meist friedlichen Demonstranten mit scharfer Munition geschossen habe, dass aber auch Scharfschützen eingesetzt worden und Hunderte durch Kopf- und Brustschüsse umgekommen seien.

      Die Unterstützer der El-Sisi-Regierung, der Armee und Polizei argumentierten, der Einsatz von Gewalt sei legitim gewesen, da die Polizei angegriffen worden sei. Auch die Menschenrechtsorganisation dokumentierte vereinzelt Fälle, in denen Demonstranten auf die Polizei geschossen hatten, „aber damit lässt sich niemals der unverhältnismäßige und vorsätzliche Einsatz von Gewalt gegen überwiegend friedliche Demonstranten rechtfertigen“, schlussfolgerte der Bericht. Selbst laut dem offiziellen Menschenrechtsrat, der im Auftrag der Regierung arbeitet, gab es unter den von ihm dokumentierten 624 Opfern nur acht tote Polizisten.

      Auch das von Human Rights Watch untersuchte Videomaterial zeigte zahlreiche Szenen, in denen Sicherheitskräfte von Dächern und Polizeifahrzeugen aus schossen, ohne Deckung zu nehmen. „Ein ungewöhnliches Verhalten, wenn es eine signifikante Bedrohung durch Schusswaffen seitens der Demonstranten gegeben hätte“, stellte der Bericht der Menschenrechtsorganisation etwas lakonisch fest.

      Der ägyptische Präsident El-Sisi und dessen Anhänger würden das Thema seitdem am liebsten unter den Tisch kehren. Für die Muslimbruderschaft ist der 14. August 2013 dagegen bis heute die wichtigste Referenz für die blutige Herrschaft des Militärs nach dem Sturz Muhammad Mursis.

       Und in Tunesien?

      Auch Tunesien drohte an der politischen und gesellschaftlichen Polarisierung des Landes zu scheitern. Die Angst der liberalen und säkularen Tunesier war groß, dass die islamistische Ennahda-Partei trotz ihres relativ moderaten Programms über die demokratische Tür doch versuchen würde, einen islamistisch geprägten Staat einzuführen. Als dann im Frühjahr 2013 zunächst der prominente linke Politiker und Ennahda-Kritiker Chokri Belaid von militanten Islamisten umgebracht wurde, kam es zu einem Generalstreik. Als wenige Monate später ein weiterer bekannter Linker, Muhammad Brahmi, ermordet wurde, folgten Massendemonstrationen, in denen auch dazu aufgerufen wurde, das von den Islamisten dominierte Parlament aufzulösen. Das Land stand vor seiner ersten großen Zerreißprobe seit dem Sturz des Diktators Ben Ali.

      Dass es nicht so weit wie in Ägypten kam, ist im Wesentlichen der tunesischen Zivilgesellschaft zu verdanken, genauer gesagt dem „Quartett für den Nationalen Dialog“, das die Zügel in die Hand nahm, um Schlimmeres zu verhindern. Das Quartett bestand aus Vertretern des größten Gewerkschaftsverbandes (UGTT, Union Générale Tunisienne du Travail), dem Arbeitgeberverband (UTICA, Union Tunisienne de l’Industrie, du Commerce et de l’Artisanat), der tunesischen Menschenrechtsliga (LTDH, Ligue Tunisienne des Droits de l’Homme) sowie der einflussreichen Anwaltskammern (Ordre National des Avocats de Tunisie).

      Das Quartett vertrat damit eine breite Palette von Interessen, einigte sich aber doch auf einen kleinen gemeinsamen Nenner, wie Tunesien aus der Krise geführt werden könne. Das Quartett fungierte als Vermittler zwischen den Parteien, forderte einen neuen Premierminister, ein neues Kabinett sowie ein neues Wahlgesetz und trieb die Diskussion um die überfällige Verfassung voran, die dann im Januar 2014 fast einstimmig verabschiedet wurde. Der nationale Dialog führte auch dazu, dass die von den Islamisten dominierte Regierung zurück- und an ihre Stelle ein Kabinett aus Technokraten trat.

      Das ägyptische Szenario war damit für Tunesien abgewendet. Der Blick auf die Ereignisse im Nilland war sicherlich eine der wichtigsten Motivationen der Tunesier, sich zusammenzuraufen. Ganz besonders, da Ennahda das Schicksal ihrer islamistischen Kollegen in Ägypten, den Muslimbrüdern, genau verfolgt hatte und alle Tunesier vor Augen hatten, wohin eine weitere Polarisierung führen konnte.

      Das Quartett erhielt für seine Arbeit verdienterweise 2015 den Friedensnobelpreis. Es habe entscheidend dazu beigetragen, eine pluralistische Demokratie in Tunesien aufzubauen und habe den Demokratisierungsprozess gerettet, als Tunesien am Rand eines Bürgerkrieges stand, hieß es in der Jurybegründung. Das Quartett habe seine Rolle als Vermittler und treibende Kraft bei der friedlichen demokratischen Entwicklung in Tunesien mit großer moralischer Autorität vorangetrieben, indem es die Grundlage für einen nationalen Dialog geschaffen habe, an dem am Ende 21 Parteien verschiedenster politischer Ausrichtung teilnahmen.

      Aber es war nicht das letzte Mal, dass weise politische Entscheidungen nötig waren, um das Land zusammenzuhalten. Bei den Parlamentswahlen Ende 2014 schlug das Pendel diesmal in Richtung des säkularen Parteienbündnisses Nidaa Tounes aus, ein Parteienbündnis, das im Wesentlichen seine Gegnerschaft zu den Islamisten einte. Einen Monat später gewann deren Kandidat Beji Caid Essebsi die Präsidentschaftswahlen. Es sah so aus, als hätten die liberalen und säkularen Parteien nun die Islamisten an den Wahlurnen geschlagen und könnten mit ihrer Mehrheit den Kurs des Landes bestimmen.

      Doch der neue Präsident Essebsi war ebenso um einen nationalen Ausgleich bemüht und nahm die islamistische Ennahda-Partei überraschend mit an Bord der Regierung. Das war ein weiterer Meilenstein in Tunesiens kurzer postrevolutionärer Geschichte. Bemerkenswert war


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