Abenteuer Baltikum (Text Edition). Guido Lange
Das war der Abend, da ich erst noch kurz über eine Radtour nachdachte und dann aber auf immer mehr Webseiten kam, auf denen stand: „Der Ostseeradweg ist oft sandig und dann heißt es schieben.“ Darauf hatte ich nun gar keine Lust, dass mir das Fahrrad zur Last würde. Nee, nee, laufen, das ist es!
Man braucht nur einen Wagen hinter sich her ziehen, wo die Klamotten, das Wasser und Lebensmittel drin sind. Das war derselbe Abend, an dem ich anfing, so einen Wagen zu zeichnen. Denn ich bin ja eigentlich Ingenieur, auch wenn ich nach fünf Jahren Studium nur acht Tage in diesem Beruf gearbeitet habe. Der Wagen hatte nur ein Rad und einen rhombenförmigen Rahmen. Nur wie viele Konstruktionsversuche würde ich brauchen, bis das Gerät „alltagstauglich“, eben robust genug war? Sowas musste es doch auch irgendwie zu kaufen geben. Ich war immer noch genauso aufgeregt wie bei meinem Lauf am Nachmittag. Und das war ein gutes Zeichen, dass die Idee gut war.
Ich erzählte meine Idee herum und spontan war keiner begeistert. Sie guckten skeptisch, aber sie kannten mich eben auch. Sie mussten zugeben, dass da ja wohl keine riesigen Gefahren lauern würden. Ich solle halt einen großen Bogen um das russische Kaliningrad machen, das wäre ja bestimmt nicht so easy. Je mehr Zweifel der anderen, desto interessanter für mich. Es ist mein Wesenszug, der nicht nur Gutes hat.
Meine Recherche im Netz zum Wagen hatte nichts ergeben. Wann immer ich nach „Ziehwagen“, „Laufwagen“, „Laufen mit Wagen“ suchte, kam ich auf Kaufangebote für einen Bollerwagen. Google ist gar nicht so gut, wie man denkt, wenn man wirklich mal was Besonderes braucht. Dann kam ich auf die Seite von Robert Wimmer – letztendlich ein Volltreffer. Der hatte so einen Wagen – ein echtes Hightech-Gerät aus dem Schwarzwald. Robert war für mich der Beweis, dass es noch mehr solche Leute gibt, die um die Welt laufen, nicht Rad fahren, nicht paddeln oder wandern wollen, nein – laufen. Nun war klar: Ich mache das, sowas funktioniert und ich bin kein einzelner Verrückter.
Währenddessen wuchs die Sehnsucht nach dem Baltikum immer weiter. Ich suchte mein altes Fotoalbum aus Masuren heraus – alle Details waren wieder frisch: Danzig, Frombork, die Frische Nehrung, die wellige Landschaft! Wenn du ein Reiseziel hast, dann kann das Fernweh so richtig groß werden.
Dann sah ich im Fernsehen Christine Thürmer mit ihrem Buch „Laufen. Essen. Schlafen“. Sie ist Weitwanderin, läuft also nicht im Laufschritt. Es war interessant, was sie erzählte: Sie hatte damals die USA auf den drei großen Trails durchquert und nur das Nötigste in einem Rucksack dabei. Den restlichen Proviant usw. hat sie sich an bestimmte Poststationen nachgesendet. Das ist dort so üblich. Insofern eine ganz andere Geschichte, aber die Frage ist erlaubt: Warum nicht wandern? Beim Wandern kann man 10 oder mehr Kilo ohne Probleme auf dem Rücken haben, beim Laufen sind selbst 5 Kilo schon lästig. Und was sind 5 Kilogramm, wenn ich pro Tag schon 3 Liter Wasser brauche? Beim Wandern zieht man sich relativ dick an, schützt sich vor dem Wind, vor dem Regen oder vor nassen Füßen. Kommt die Sonne raus, heißt es umziehen. Beim Laufen wird man sofort warm, auch dünn bekleidet. Ist mir kalt, laufe ich schneller. Für mich ist kühles, feuchtes Wetter ideal zum Laufen. Sind es nicht unter null Grad, habe ich nur kurze Lauftights und ein Shirt an. Und bei Sonne, na, da ist es halt warm, aber immer noch besser als warm in einer Wanderjacke.
Auch Wanderer scheint es an der Ostsee viele zu geben: Die Strecke Usedom – Halbinsel Hel wird jedes Jahr von ca. 500 Wanderern abgelaufen – sieh mal einer an! So langsam fand ich das alles und kam auf die interessanten Webseiten. Das war auch wichtig, denn ich hatte ja doch noch einiges vorzubereiten.
Derweil brannte die Sehnsucht, glühte das Fernweh und ich freute mich riesig über meine Idee. Am liebsten wäre ich damals sofort losgelaufen. Die Leser können jetzt springen zum Kapitel „Auf ins Baltikum!“.
Was brauche ich denn so?
Wir hatten Mitte Januar und draußen war es kalt. Für solch eine Auszeit braucht man am besten einen langen Anlauf. Es wurden 15 Monate Vorbereitungszeit. Allein die Arbeitsstelle zu regeln, kann schon einige Kraft kosten, dann die Ausrüstung und das Schlauwerden über so ein Abenteuer.
Ich entschied mich für einen Februartag, um meinen Vorgesetzten über meine Pläne ins Bild zu setzen. Er war sichtlich überrascht und etwas unsicher. Aber er gönnte es mir und sagte mir mehr oder weniger an diesem Tag schon zu, so empfand ich es. Vielleicht war er nicht unsicher, sondern dachte nur das, was später auch viele meiner Kunden dachten: „Warum ziehe ich nicht selbst mal ein Abenteuer in Betracht?“ Immerhin ist es in einem Unternehmen der freien Wirtschaft nicht unbedingt usus, den Mitarbeitern eine Auszeit zu gewähren. 30 % aller Arbeitenden denken über eine Auszeit nach, aber nur 1 % machen dann auch eine, vor allem im öffentlichen Dienst, wo es oft sogar Regeln dafür gibt. Ich rechnete grob mit ca. 20 km pro Tag und kam auf 100 Tage, also vier Monate Auszeit. Na, das waren doch glänzende Aussichten. Ich würde zwar sparsam sein müssen, immerhin erhielt ich für diese Zeit kein Gehalt. Der eigentliche Lohn ist die Freiheit und dieser Gedanke versetzte mich immer mal wieder in Hochstimmung.
Der Wagen war ein wichtiger Punkt. Ich besuchte im Juni Robert Wimmer in Nürnberg. Der hat einen Benpacker – ein Ziehwagen mit zwei Rädern. Darauf sitzt eine wasserdichte Ortlieb-Tasche mit bis zu 30 Kilogramm Gewicht. Wir machten einen Ausflug, liefen gut 22 km entlang des Main-Donau-Kanals bis nach Roth. Momentmal – das Roth? Ja, es ist der magische Ort mit der Roth-Challenge – eine Strapaze mit IronMan-Bedingungen. Die Wiege des Triathlonsports in Deutschland. Wir übernachteten draußen und liefen am nächsten Tag zurück. Robert hat sehr viel Erfahrung für das Leben draußen, macht die unglaublichsten Geschichten, wie z. B. einen Lauf über die Alpen auf den Spuren Hannibals. Gerne 80 km am Tag schafft der 100 km-Deutscher-Meister auf der Bahn. Er erzählte vom Transeuropalauf 2003 von Lissabon nach Moskau. (Er wurde Sieger über 64 Etappen mit 5.036 km). Wow, das war für mich eine völlig neue Welt! Wie kann man so weit laufen? Der Besuch bei Robert hat mich geflashed und bestärkt, genau auf der richtigen Spur zu sein. Puhh, tut das gut: zu wissen, man ist nicht allein mit seinen Ideen.
Ich will mich zwar nicht quälen, aber weit kommen, das schon. Und wenn ich Zeit habe, dann komme ich weit. Robert gab mir auch seine Packliste und unzählige Tipps für mein Abenteuer. Ich brauchte Nahrungsmittel für dünn besiedelte Gebiete. Da habe ich Trek‘n Eat genommen. Das schmeckte besser als manches Restaurant, empfand ich später, als es dann darauf ankam.
Den Wagen, den Benpacker, hab ich bei Ben Größle bestellt, Tüftler und Erfinder und Erbauer des Benpacker in Oppenau im Schwarzwald. Der Wagen ist ein zuverlässiger Begleiter mit schwäbischer – pardon – badischer Präzision. Er wiegt ca. 7 Kilo und so kann man ca. 25 Kilo Nutzlast mitnehmen. Er hat zwei Zugstangen, die mit Schlaufen in einen Hüftgurt eingehängt sind. Daran sind sogar zwei Schnüre für die Scheibenbremsen, denn wenn es mal einen Abhang herunter geht, lässt sich der Schub des Gewichtes dosieren. Die Räder sind aus Carbon und haben Luftbereifung. Je größer das Rad, desto komfortabler fährt man. Falls erforderlich, ist es aber auch gut, die Räder abstecken und in den Sack packen zu können, dann sollten sie klein sein. Ich wollte auf insgesamt 30 kg kommen, eigentlich nur 27 kg, denn ich brauche ja täglich auch drei Liter frisches Wasser. Der Wagen hat eine wasserdichte Tasche oben drauf, die ich innen mit drei Frischhaltekisten unterteilt habe. So rutscht nicht alles zusammen und ich kann z.B. Lebensmittel von Kosmetikartikeln trennen. Durch die beiden Räder habe ich zwar immer eine gewisse Durchfahrtsbreite, kann aber das Gewicht auf der Achse beinahe ausbalanciert verteilen. So liegt nicht unbedingt viel Druck auf der Hüfte. Allerdings brauche ich eine gewisse Gewichtung nach vorn, weil sonst der Wagen sich durch den Laufrhythmus aufschaukelt. Schwere Sachen, die ich oft brauche, kommen nach vorn (Wasser, Snacks), ganz nach hinten, unten kommt das, was ich nach Möglichkeit gar nicht gebrauchen will (Medikamente, Reparaturzeug). Ich habe bei meinen Probeläufen oft umgepackt, bis es sich gut lief. An manchen Tagen beruhigt sich der Wagen, an anderen Tagen nie so ganz. Es gibt Tage, da macht der Wagen was er will. Da übt man eine gewisse Geduld.
Ich brauchte Klamotten und fragte verschiedene mir sympathische Hersteller an, ob sie sich beteiligen würden. Das hätte ich mir sparen können, denn das Gute liegt so nah: Christian Schwab von thonimara stattete mich mit seinen Qualitätsklamotten Made in Germany aus. Ganz herzlichen Dank dafür. Es klingt jetzt blöd, aber ich mache es trotzdem: Die Laufsachen von thonimara aus Sachsen