Die Kunst, sich zu verlieren. Rebecca Solnit

Die Kunst, sich zu verlieren - Rebecca Solnit


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      REBECCA SOLNIT

      Die Kunst,

      sich zu verlieren

       Ein Wegweiser

      Aus dem amerikanischen Englisch

      von Michael Mundhenk

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      Inhalt

       Offene Tür

       Das Blau der Ferne

       Gänseblümchenketten

       Das Blau der Ferne

       Verlassenheit und Hingabe

       Das Blau der Ferne

       Zwei Pfeilspitzen

       Das Blau der Ferne

       Eingeschossiges Haus

       Literaturhinweise

      Offene Tür

      Das erste Mal betrank ich mich mit Elias’ Wein. Ich war acht oder so. Es war Passah, das Fest, an dem die Flucht aus Ägypten und, allgemeiner, die Freiheit gefeiert wird. Ich saß bei den Großen am Tisch, denn meine Eltern und dieses andere Ehepaar hatten zusammen insgesamt fünf Jungen, weshalb die Erwachsenen beschlossen hatten, es wäre besser für mich, ich würde von ihrer statt von meiner Generation ignoriert. Die Decke war orange-rot gemustert und der ganze Tisch voller Gläser, Teller, Schüsseln, Silberbestecke und Kerzen. Ich verwechselte den Stielkelch, der für den Propheten hingestellt worden war, mit meinem Schnapsglas, das direkt daneben stand und ebenfalls süßen rubinroten Wein enthielt, und trank versehentlich den Kelch aus. Als meine Mutter es schließlich merkte, ließ ich mich etwas zur Seite sacken und grinste leicht, doch als sie eine verärgerte Miene aufsetzte, spielte ich die Nüchterne statt die Beschwipste.

      Sie war eine abtrünnige Katholikin, die andere Frau eine ehemalige Protestantin, aber die beiden Männer waren Juden, und die Frauen meinten, für die Kinder wäre es gut, den alten Brauch weiter zu pflegen. Weshalb für Elias das Passah-Weinglas hingestellt wurde. In manchen Versionen kehrt er am Ende der Zeit auf die Erde zurück und beantwortet alle unbeantwortbaren Fragen. In anderen wandert er, in Lumpen gehüllt, auf der Erde umher und beantwortet den Gelehrten schwierige Fragen. Ich weiß nicht, ob damals auch der Rest der Tradition befolgt und eine Tür aufgelassen wurde, damit er hereinkommen konnte, doch kann ich mir durchaus vorstellen, dass die orangefarbene Haustür oder eine der gläsernen Schiebetüren, die in den Garten dieses in einem kleinen Tal gelegenen, im Rancherstil gebauten Hauses führten, für die kühle Luft der Frühlingsnacht offen stand. Normalerweise schlossen wir die Türen immer ab, obwohl in diesem nördlichsten Wohngebiet des Countys nichts Unerwartetes die Straße herunterkam, außer Wild – Rehe, die in den frühen Morgenstunden mit ihren Hufen über den Asphalt klapp-klapp-klapperten, Waschbären und Stinktiere, die sich im Gebüsch versteckten. Dieses Öffnen der Tür für die Nacht, für die Prophezeiung und das Ende der Zeit wäre ein aufregender Verstoß gegen die üblichen Regeln gewesen. Und ich weiß auch nicht mehr, was sich mir durch den Wein eröffnete – vielleicht ein unbeschwerterer Abstand zu der Unterhaltung, die im wahrsten Sinne des Wortes über meinen Kopf hinweg stattfand, ein Gefühl der Gelassenheit in der plötzlich spürbaren Schwere eines kleinen Körpers auf diesem mittelgroßen Planeten.

      Lass die Tür offen für das Unbekannte, die Tür in die Dunkelheit. Dort kommen die wichtigsten Dinge her, dort bist du selbst hergekommen, und dort wirst du auch wieder hingehen. Vor drei Jahren veranstaltete ich einen Workshop in den Rocky Mountains. Eine Studentin brachte ein Zitat mit, das, wie sie sagte, von dem vorsokratischen Philosophen Menon stammte. Es lautete: »Auf welche Weise willst du dasjenige suchen, wovon du ganz und gar nicht weißt, was es ist?« Ich schrieb es mir auf und habe es seither nicht mehr vergessen. Die Studentin machte großformatige transparente Unterwasserfotografien von Schwimmern und hängte sie an die Decke, damit das Licht durch sie hindurchscheinen konnte, sodass die Schatten der Schwimmer über einen hinwegglitten, während man sich in dem Raum bewegte, einem Raum, der selbst aquatisch und geheimnisvoll wirkte. Die Frage, die sie bei sich trug, schien mir die grundlegende taktische Frage des Lebens überhaupt zu sein. Die Dinge, die wir uns wünschen, sind transformativ, und wir wissen nicht oder glauben nur zu wissen, was auf der anderen Seite dieser Verwandlung liegt. Liebe, Weisheit, Würde, Inspiration – wie soll man diese Dinge suchen und finden, Dinge, bei denen es in gewisser Hinsicht auch darum geht, die Grenzen des Ichs auf unbekanntes Territorium zu erweitern, jemand anderes zu werden?

      Auf jeden Fall ist das Unbekannte, die Idee oder Form oder Geschichte, die sich noch nicht eingestellt hat, das, was alle Künstler und Künstlerinnen finden müssen. Es ist ihre Aufgabe, Türen zu öffnen und Prophezeiungen, das Unbekannte, das Ungewohnte einzuladen – dort hat ihre Arbeit ihren Ursprung; hat es sich dann eingefunden, signalisiert dies den Beginn des langen, disziplinierten Prozesses, es sich zu eigen zu machen. Auch Wissenschaftler, wie J. Robert Oppenheimer einmal bemerkte, »leben immer am ›Rand des Mysteriums‹ – an der Grenze des Unbekannten«. Doch transformieren sie das Unbekannte in das Bekannte, holen es wie Fischer ein; Künstler und Künstlerinnen dagegen nehmen einen mit hinaus auf jene dunkle See.

      Edgar Allan Poe verkündete: »Was philosophische Entdeckungen anbelangt, so lehrt uns alle Erfahrung, dass es bei solchen Entdeckungen das Unvorhergesehene ist, das wir am meisten in Rechnung stellen müssen.« Ganz bewusst setzt Poe den Begriff »in Rechnung stellen«, der ein kaltes Zusammenzählen von Fakten oder Zahlen impliziert, neben das »Unvorhergesehene«, das nicht gemessen oder gezählt, sondern nur antizipiert werden kann. Wie stellt man das Unvorhergesehene in Rechnung? Es scheint eine Kunst zu sein, die Rolle des Unvorhergesehenen zu erkennen, inmitten von Überraschungen das Gleichgewicht zu bewahren, mit dem Zufall zusammenzuarbeiten, zu begreifen, dass es auf der Welt einige grundlegende Mysterien gibt und das Berechnen, das Planen, das Lenken daher Grenzen hat. Das Unvorhergesehene in Rechnung zu stellen ist vielleicht genau die paradoxe Tätigkeit, die das Leben am meisten von uns verlangt.

      An einem berühmten Mittwinterabend im Jahre 1817 unterhielt sich der Dichter John Keats auf dem Heimweg mit mehreren Freunden:

      … manches leuchtete mir ein und plötzlich verstand ich, welche Eigenschaft es ist, die einen Mann bedeutend macht, besonders in der Literatur… ich meine die Negative Befähigung, das heißt, wenn jemand fähig ist, das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen, ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen.

      Auf die eine oder andere Art und Weise taucht dieser Gedanke immer wieder auf, wie die »Terra incognita« genannten Flecken auf alten Landkarten.

      »Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden – das mag uninteressant und banal sein. Unkenntnis braucht es dazu – sonst nichts«, schreibt der Philosoph und Essayist Walter Benjamin. »In einer Stadt sich aber zu verirren – wie man in einem Wald sich verirrt –, das bedarf schon einer ganz anderen Schulung.« Sich verirren, verlieren: ein sinnliches Sich-Aufgeben, verloren in deinen Armen, verloren für die Welt, vollkommen eingetaucht in das, was gegenwärtig ist, sodass die Umgebung verblasst. Benjamin zufolge bedeutet sich verirrt zu haben, völlig gegenwärtig zu sein, und völlig gegenwärtig zu sein heißt, es auszuhalten im Ungewissen und Unergründlichen. Und man wird


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