Die Kunst, sich zu verlieren. Rebecca Solnit

Die Kunst, sich zu verlieren - Rebecca Solnit


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anonymer Wanderer, deren Gesellschaft so angenehm ist nach der Einsamkeit des eigenen Zimmers … In jedes dieser Leben konnte man ein kleines Stück eindringen, weit genug, um sich der Illusion hinzugeben, dass man nicht an einen einzigen Geist gebunden ist, sondern kurz, für einige Minuten, Körper und Geist anderer anlegen kann.

      Für Woolf war das Sich-Verlieren nicht so sehr eine Frage der Geografie als der Identität, ein leidenschaftlicher Wunsch, ja sogar eine dringende Notwendigkeit, niemand und jeder zu werden, die Ketten abzuwerfen, die einen daran erinnern, wer man ist, wer man anderen zufolge ist. Denjenigen, die in fremde Gegenden und entlegene Refugien reisen, ist diese Auflösung der Identität vertraut, doch Woolf, mit ihrer feinen Wahrnehmung der Schattierungen des Bewusstseins, konnte sie auf einem Spaziergang die Straße hinunter finden, in einem kurzen Augenblick der Einsamkeit in einem Lehnstuhl. Woolf war keine Romantikerin, feierte nicht die Art des Sich-Verlierens, die die erotische Liebe vorstellt, wo die geliebte Person als Einladung gesehen wird, das zu werden, was man insgeheim, latent bereits ist – wie eine Zikade, die unter der Erde darauf wartet, bis sie in siebzehn Jahren gerufen wird –, diese Liebe für den anderen, die auch den Wunsch darstellt, im Mysterium anderer im eigenen Mysterium zu leben. Ihre Art des Sich-Verlierens war, genau wie die von Thoreau, einsam.

      Malcolm erwähnte, vollkommen unvermittelt, die im Norden Zentralkaliforniens lebenden Wintu, die zur Beschreibung ihres Körpers nicht die Wörter »links« und »rechts« heranziehen, sondern die Himmelsrichtungen. Ich war völlig hingerissen von dieser Schilderung einer Sprache und der ihr zugrunde liegenden kulturellen Vorstellungswelt, in der das Ich nur in Bezug auf den Rest der Welt existiert, es kein Du ohne Berge gibt, ohne Sonne, ohne Himmel. Wie Dorothy Lee schreibt:

      Wenn ein Wintu flussaufwärts geht, sind die Berge im Westen, der Fluss ist im Osten, und eine Mücke sticht ihn in den westlichen Arm. Wenn er zurückkehrt, sind die Berge immer noch im Westen, aber wenn er sich an dem Mückenstich kratzt, dann kratzt er sich den östlichen Arm.

      In dieser Sprache ist das Selbst nie so verloren, wie viele Menschen heutzutage verloren sind, wenn sie sich in der Wildnis verirren, ohne die Himmelsrichtungen zu kennen, ohne ihre Beziehung nicht nur zu ihrer Wegroute, sondern auch zum Horizont und dem Licht und den Sternen im Auge zu behalten, doch jemand, der diese Sprache spricht, wäre verloren ohne eine Welt, mit der er in Verbindung treten kann, wäre verloren in den modernen Schattenwelten von U-Bahnen und Kaufhäusern. In der Sprache der Wintu ist die Welt stabil und man selbst ist bedingt, ist, losgelöst von seiner Umgebung, nichts.

      Ich habe nie von einem ausgeprägteren Orts- und Richtungssinn gehört, doch ist dieses Richtungsbewusstsein in eine fast verlorene Sprache eingebettet. Vor zehn Jahren lebten noch sechs bis zehn Muttersprachler des Wintu, sechs bis zehn Menschen, die eine Sprache fließend sprachen, in der das Ich nicht das autonome Gebilde war, für das wir es halten, wenn wir unser »Rechts« und »Links« mit uns herumtragen. Die letzte Muttersprachlerin des nördlichen Wintu, Flora Jones, starb 2003, doch Matt Root, der Mann, der mir diese Information per Mail zukommen ließ, erwähnte auch, dass drei Wintu und ein Pit-River-Nachbar »noch Teile der alten Wintu-Umgangssprache und ihres Aussprachesystems kennen«. Er selbst habe die Sprache studiert und hoffe, sie werde wieder aufleben, sodass sein Volk beginnen könne,

      durch unsere Sprache Verbindungen zu unserer Vergangenheit herzustellen. Die Weltsicht der Wintu ist in der Tat einzigartig; unsere enge Vertrautheit mit unserer Umwelt rundet diese Einzigartigkeit ab, und die zukünftige Neuansiedlung von Menschen in unseren traditionellen Gebieten sowie die Wiedereinführung unserer Kultur und Geschichte werden dazu führen, dass die alten Narben langsam wieder verheilen können, die Narben der Umsiedlung und des offenen Genozids. Die Wegbereiter unseres heutigen Sprachverlusts.

      Oder, wie es in einem 2004 veröffentlichten Artikel über die einhundert rasch aussterbenden Indianersprachen Kaliforniens heißt:

      Solch eine Sprachendifferenzierung kann durchaus mit einer ökologischen Differenzierung verknüpft sein. Nach dieser Sichtweise haben die Menschen ihre Wörter den ökologischen Nischen, die sie bewohnten, angepasst – und Kaliforniens äußerst vielfältige Ökologie förderte seine linguistische Vielfalt. Diese Theorie wird unterstützt durch Landkarten, die zeigen, dass es in Gebieten mit einem größeren Artenreichtum auch mehr Sprachen gibt.

      Es wäre eine schöne Vorstellung, dass die Wintu einst in einer so perfekten Welt lebten, dass sie alle Grenzen kannten und nie die Erfahrung machten, sich verirrt zu haben oder verloren zu sein, doch das Leben ihrer nördlichen Nachbarn, der Achumawi- oder Pit-River-Indianer, legt nahe, dass das wahrscheinlich nicht der Fall war. Als ich einmal Freunde bei einer Aufführung in einem Stadtpark treffen wollte und sie in der Menschenmenge nicht finden konnte, ging ich in ein Antiquariat und entdeckte ein altes Buch. Darin schreibt Jaime de Angulo, der wilde spanische Erzähler und Anthropologe, der vor achtzig Jahren eine beträchtliche Zeit bei diesem Volk verbrachte:

      Ich möchte jetzt von einem seltsamen Phänomen berichten, das unter den Pit-River-Indianern auftritt. Die Indianer nennen es auf Englisch »wandering«. Sie sagen über einen bestimmten Menschen: »Er wandert gerade« oder »Er hat angefangen zu wandern«. Für manch einen scheint es bei bestimmten seelischen Belastungen einfach zu schwer zu sein, das Leben in der gewohnten Umgebung auszuhalten. Solch ein Mensch beginnt zu wandern. Ziellos streift er durchs Land. Hier und dort verweilt er kurz in den Lagern von Freunden oder Verwandten, doch dann zieht er weiter, bleibt nirgendwo länger als ein paar Tage. Nie drückt er seinen Schmerz, seinen Kummer oder seine Sorge äußerlich aus … Der Wanderer, ob Mann oder Frau, meidet Lager und Dörfer, bleibt lieber in wilden, einsamen Gegenden, auf den Gipfeln der Berge, am Grund der Canyons.

      Dieser Wanderer ist gar nicht so weit entfernt von Woolf – auch sie kannte die Verzweiflung und den Wunsch nach dem, was die Buddhisten »Erlöschen« nennen, ein Wunsch, der sie schließlich, die Manteltaschen voller Steine, in einen Fluss trieb. Hier geht es nicht darum, dass man sich verirrt hat, sondern darum, dass man sich verlieren will.

      De Angulo schreibt weiter, dass das Wandern zum Tod, zur Hoffnungslosigkeit, zum Wahnsinn, zu verschiedenen Formen der Verzweiflung führen kann, aber auch zu Begegnungen mit anderen Mächten in den entlegeneren Gegenden, in die ein Wanderer ziehen kann. Er endet mit den Worten:

      Wenn man selbst schon ziemlich wild geworden ist, dann kommen vielleicht einige der wilden Wesen und schauen sich einen an, und eins von ihnen wendet einem vielleicht seine Aufmerksamkeit zu, nicht, weil man leidet und friert, sondern einfach, weil es zufällig mag, wie man aussieht. Wenn dies geschieht, ist das Wandern vorbei, und der Indianer wird Schamane.

      Man verliert sich, weil man den Wunsch hat, sich zu verlieren. Doch dort, wo man sich verliert, findet man seltsame Dinge, merkt de Angulos Herausgeber an: »Die Alten sagen, alle Weißen sind Wanderer.«

      Während jener langen Zeit, als die Geschichten nur so auf mich einprasselten, gab ich eine Lesung in einer Bar in einer Straße, die früher einmal am Wasser entlang verlief, bevor das Ufer aufgefüllt wurde, um an der Nordküste der Halbinsel, auf der San Francisco liegt, noch ein paar Häuserblöcke herauszuquetschen. Ich las ein kurzes Stück, das mit einem Wolkenbruch endete, und ein zweites über die See, und dann ging ich mir einen Drink holen. Carol, die Frau des Mannes, der mich zu der Lesung eingeladen hatte, winkte mich zu dem Barhocker neben sich herüber und erzählte mir schließlich von dem Tätowierkünstler, der über viele Jahre ihr Nachbar gewesen war. Er war jahrzehntelang ein Junkie gewesen, und irgendwann hatte sich dann an seiner Hand, dort, wo er sich einen Schuss gesetzt hatte, Schorf entzündet. Er landete mit einer fast tödlichen systemischen Infektion im Krankenhaus, und es musste ihm der Arm, der rechte Arm, der Arm, mit dem er arbeitete, amputiert werden. Doch am Ende jener langen Zeit, als er bis an den Rand des Todes gegangen und wieder zurückgekehrt war, meinte der Arzt zu seiner Verwunderung, er sei von seiner Abhängigkeit geheilt. Er wurde zwar ohne sein Handwerk, aber »clean« aus dem Krankenhaus entlassen und musste bei null anfangen, ein ebenso abruptes und überwältigendes In-die-Welt-geworfen-Werden wie die Geburt. Auf den Arm war ein Drache tätowiert gewesen, der jetzt bis auf den Kopf völlig verschwunden war.

      Meine Freundin Suzie erzählte mir, während ich sie von jener Bar nach Hause fuhr, von der wahren Bedeutung der Figur der Justitia, die mit verbundenen Augen eine Waage in der Hand hält. Suzie


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