Die Kunst, sich zu verlieren. Rebecca Solnit

Die Kunst, sich zu verlieren - Rebecca Solnit


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den alten Fertigkeiten und Instinkten, die man in der Wildnis braucht, und von der geradezu unheimlichen Intuition ihres Mannes, die sie genauso zu jenen Fähigkeiten zählt wie all die konkreten Techniken des Sich-Zurechtfindens, des Spurenlesens und des Überlebens, die sie gelernt hatte. Einmal hatte er ein Schneemobil bis direkt vor die Füße eines Arztes gefahren, der sich verirrt hatte, als ein Spaziergang bei mildem Winterwetter in einem dichten Schneesturm endete; von einem unerklärlichen Instinkt geleitet, hatte er gewusst, wo der frierende Mann war: abseits des Weges und am anderen Ende einer verschneiten Wiese. Ein Rancharbeiter hatte erzählt, wie eigenartig eine andere Rettungsaktion gewesen sei, weil sie, statt zu rufen, stumm in die Schneenacht hinausgegangen waren. Der Rancher hatte nicht gerufen, weil er wusste, in welche Richtung er gehen musste, und blieb dann am Rand des Felsvorsprungs stehen, unter dem der verirrte Skiläufer festsaß. Dieser hatte versucht, am Wildbach entlang zurückzufinden, was normalerweise eine gute Strategie ist, doch dieser Bach wurde immer schmaler und tiefer, bis er eine Reihe von Wasserfällen bildete und steil hinabstürzte. Und so saß der Skiläufer, zusammengekauert, den Pullover über die Knie gezogen, unter einem Felsvorsprung fest. Sein Pullover war so hart gefroren, dass man den Mann fast aus ihm herausmeißeln musste.

      Mir selbst brachte ein Outdoorexperte bei, dass man auf jeder noch so kleinen Wanderung immer Regenkleidung, Wasser und andere Vorräte bei sich haben sollte, dass man darauf vorbereitet sein sollte, lange Zeit im Freien zu verbringen, da Pläne oft schiefgingen und man sich im Hinblick auf das Wetter nur auf eins verlassen könne, nämlich, dass es sich ändert. Ich besitze keine besonderen Fertigkeiten, doch scheine ich auf Straßen und Wanderwegen und Highways und manchmal auch beim Querfeldeinwandern mit dem In-die-Irre-Gehen immer nur zu kokettieren und lediglich den Rand des Unbekannten, der die Sinne schärft, zu streifen. Ich mag es, vom Weg abzuweichen, das mir bekannte Terrain zu verlassen, ein paar Extrakilometer zu gehen und auf einem anderen Weg zurückzufinden, mit einem Kompass, der der Landkarte widerspricht, mit den gegensätzlichen anekdotischen Richtungsangaben von Fremden. Nächte allein in Motels in abgelegenen Orten im Westen, wo ich niemanden kenne und wo niemand, den ich kenne, weiß, wo ich bin, Nächte mit den seltsamen Bildern, den geblümten Bettdecken und dem Kabelfernsehen, die mir eine Atempause von meiner eigenen Lebensgeschichte verschaffen, wo ich, um mit Benjamin zu sprechen, mich verirrt, mich verloren habe, obwohl ich weiß, wo ich bin. Augenblicke, wo ich mir, wenn meine Füße oder mein Auto einen Bergkamm überqueren oder um eine Ecke biegen, sage, dass ich diesen Ort noch nie gesehen habe. Zeiten, wo mir eine architektonische Einzelheit oder Perspektive, die mir während all dieser Jahre entgangen war, sagt, dass ich nie wirklich wusste, wo ich war, selbst bei mir zu Hause nicht. Geschichten, die das Bekannte wieder verfremden, wie die Geschichten, die die verschwundenen Landschaften, die verschwundenen Friedhöfe, die verschwundenen Tier- und Pflanzenarten aus der Umgebung meiner Wohnung wieder zum Vorschein brachten. Unterhaltungen, die alles um sie herum verschwinden lassen. Träume, die ich vergesse, bis mir klar wird, dass sie alles gefärbt haben, was ich an jenem Tag gefühlt und getan habe. Sich dergestalt zu verlieren scheint mir der Beginn eines Prozesses zu sein, bei dem man seinen eigenen oder einen anderen Weg findet, wenngleich man sich auch noch auf andere Weise verirren kann.

      Im 19. Jahrhundert scheinen Amerikaner selten auf so katastrophale Weise in die Irre gegangen zu sein wie die Menschen, die heute von Rettungsmannschaften verirrt oder tot geborgen werden. Ich machte mich auf die Suche nach ihren Geschichten darüber, wie sie sich verirrt hatten, und stellte fest, dass es für diejenigen, die keinen vollgepackten Zeitplan hatten, die sich aus der Natur ernähren konnten, die Fährten lesen konnten, die sich in noch unkartografierten Gegenden an Himmelskörpern, Wasserwegen und mündlichen Wegbeschreibungen orientieren konnten, keine Katastrophe war, einen Tag oder auch eine Woche vom Weg abzukommen. »Ich habe mich in meinem ganzen Leben nie in den Wäldern verirrt«, sagte Daniel Boone, »obwohl ich einmal drei Tage lang verwirrt war.« Für Boone ist das eine legitime Unterscheidung, da er es letztendlich schaffte, wieder dorthin zurückzufinden, wo er sich auskannte, und wusste, was er in der Zwischenzeit tun musste. Die gefeierte Rolle, die Sacajawea bei der Lewis-und-Clark-Expedition spielte, war in erster Linie nicht die einer Kundschafterin; sie machte ihnen, wenn sie sich verirrt hatten, das Leben durch ihre Kenntnis nützlicher Pflanzen leichter, durch ihre Sprachkenntnisse, dadurch, dass sie und ihr Baby den Indianerstämmen, denen sie begegneten, klarmachten, dass es sich nicht um einen Kriegstrupp handelte, und vielleicht auch durch ihr Gespür dafür, dass die ganze Landschaft ein Zuhause war, zumindest für irgendjemanden. Genau wie sie fühlten sich viele weiße Scouts, Trapper und Forschungsreisende im Unbekannten zu Hause, denn obwohl ihnen eine bestimmte Gegend nicht vertraut gewesen sein konnte, war die Wildnis als solche in vielen Fällen ihre Wahlheimat. »Forschungsreisende«, schrieb mir der Historiker Aaron Sachs als Antwort auf eine Frage,

      verirrten sich ständig, da sie in diesen Gegenden noch nie gewesen waren. Sie haben nie erwartet, genau zu wissen, wo sie gerade waren. Gleichzeitig kannten sich viele jedoch ziemlich gut mit ihren Messgeräten aus, und auch ihre Route kannten sie einigermaßen genau. Meiner Meinung nach war ihre wichtigste Eigenschaft einfach ein Gefühl von Optimismus, dass sie überleben und sich zurechtfinden würden.

      Verirrt zu sein, halfen mir meine Gesprächspartner zu verstehen, war hauptsächlich ein Geisteszustand, und das trifft auf all die metaphysischen und metaphorischen Verirrungen genauso zu wie auf das Herumstolpern in irgendwelchen entlegenen Gegenden.

      Die Frage ist also, wie man sich verirren soll. Sich nie zu verirren heißt, nicht zu leben, nicht zu wissen, wie das In-die-Irre-Gehen einen in den Untergang führt, und irgendwo in der Terra incognita dazwischen liegt ein Leben voller Entdeckungen. Zusammen mit seinen eigenen Worten schickte Sachs mir ein paar Zeilen von Thoreau, für den es ein und dieselbe Kunst ist, sich im Leben, in der Wildnis und in der Welt der Bedeutungen zu orientieren, und der innerhalb eines einzigen Satzes auf subtile Weise von einem zum anderen überwechselt. »Es ist eine ebenso überraschende und merkwürdige wie wertvolle Erfahrung, sich im Walde zu irgendeiner Zeit zu verirren«, schrieb er in Walden.

      Erst bis wir uns ganz verirrt oder umgedreht haben – denn der Mensch braucht nur einmal in dieser Welt mit geschlossenen Augen herumgedreht zu werden, um verirrt zu sein –, lernen wir die Weite und Fremdartigkeit der Natur schätzen. Nicht eher, als bis wir verloren sind – mit anderen Worten: bis wir die Welt verloren haben –, fangen wir an, uns selbst zu finden und gewahr zu werden, wo wir sind und wie endlos ausgedehnt unsere Verbindungen sind.

      Thoreau spielt hier mit der biblischen Frage, was es dem Menschen hülfe, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele. Verliere die ganze Welt, erklärt er, verliere dich in ihr und finde deine Seele.

      »Auf welche Weise willst du dasjenige suchen, wovon du ganz und gar nicht weißt, was es ist?« Jahrelang trug ich Menons Frage mit mir herum, und dann, als so ziemlich alles schiefging, brachten mir Freunde und Freundinnen lauter Geschichten, eine nach der anderen, die, wenn schon keine Antworten, so doch zumindest Meilensteine und Wegweiser zu sein schienen. May schickte mir aus heiterem Himmel ein langes Zitat von Virginia Woolf, das sie in runden schwarzen Buchstaben auf dickes unliniertes Papier geschrieben hatte. Es handelte von einer Mutter und Ehefrau, allein, am Ende eines Tages:

      Denn jetzt brauchte sie über niemanden nachzudenken. Sie konnte sie selbst sein, allein sein. Und das war es, wonach sie jetzt oft das Bedürfnis verspürte – nachzudenken; nein, nicht einmal nachzudenken. Still zu sein; allein zu sein. All das Sein und Tun, das raumgreifende, glitzernde, vernehmliche, verdunstete; und man schrumpfte, mit einem gewissen Gefühl der Feierlichkeit, darauf zusammen, man selbst zu sein, ein keilförmiges Kerngehäuse im Dunkeln, etwas für andere Unsichtbares. Obwohl sie zu stricken fortfuhr und aufrecht saß, empfand sie sich gerade so; und dies Ich, das seine Bindungen abgeworfen hatte, war frei für die seltsamsten Abenteuer. Wenn das Leben für einen Augenblick Ruhe gab, schien die Reichweite der Erfahrung grenzenlos … Darunter ist es ganz dunkel, weitet sich alles, ist es unauslotbar tief; doch ab und zu steigen wir an die Oberfläche, und das ist es, wodurch man uns sieht. Ihr Horizont erschien ihr grenzenlos.

      Diese Passage aus Zum Leuchtturm erinnerte mich an eine andere Arbeit von Virginia Woolf, die ich bereits kannte, nämlich ihren Essay über das Spazierengehen, in dem sie erklärte:

      Wenn wir an einem schönen frühen Abend zwischen vier und sechs


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