Als hätten sie Land betreten. Claudia Sammer
Veza ihr hingeworfen hatte, sie werde in den Karmel eintreten, und bekam ihn nicht zu fassen. Nur im Hintergrund des Bewussten war etwas aus dem Gleichgewicht geraten.
Immer bestimmst du!
Nicht ein einziges Mal habe Veza sie nach ihrer Meinung gefragt, nie hätten sie gemeinsam darüber gesprochen.
Ich konnte es nicht.
Sie habe diese Entscheidung für sie beide getroffen, das müsse Lotti ihr glauben. Lotti wisse nicht, wie es sei, in der Unscheinbarkeit zu leben, sie kenne nicht das Aufden-Boden-Schauen und Sich-unsichtbar-Machen. Was könne sie sich von dieser Zukunft erwarten?
Sie wisse tatsächlich nicht, ob es etwas zu erwarten gäbe.
Sie hätten alles vor sich.
Daran zu glauben, fiele ihr jetzt sehr schwer.
Mit dem ersten Lichtstrahl werde sie zurückkommen, darauf gebe sie Lotti ihr Wort.
Es sei zu früh.
Was sei zu früh?
Es sei zu früh, sich Vezas Fortsein vorzustellen, diese Vorstellung mache ihr Angst. Sie hätte das Wenige nie freiwillig aufgegeben. Was bliebe ihnen nun außer Verständnis und Worten, Briefe, glattes, kühles Schriftliches, das sich nicht umarmen ließe, das in ihren Händen beim Lesen knittrig und feucht werde, das Fragen beantworte, die sie vor Wochen gestellt habe, und dennoch nicht wisse, was ihr fehle.
Veza holte zwei kleine, herzförmig Dosen aus ihrer Jackentasche, in den Deckel der beiden waren Blumen eingearbeitet. Sie öffnete sie, trat hinaus und hielt sie den Sonnenstrahlen entgegen, streckte sie den Ästen hin, die im Wind rauschten, drückte sie ans Herz und an ihren Mund, bedeckte sie fest mit beiden Händen und reichte eine Lotti.
Eine für dich und eine für mich, hier bewahren wir alles auf. Wenn wir sie öffnen, werden wir das Licht spüren und die Wärme, die Liebe und den Trost.
Aber nicht die Nähe. Wir brauchen einander doch.
Flatternde Angst
Lotti
Der Gedanke kam ihr, dass all die Pfade und der Rasen, durch und durch verquickt mit dem Leben, das sie dort geführt hatten, verschwunden waren; ausradiert waren; vergangen waren; unwirklich waren […].
Nach Vezas Abreise sperrte Lotti sich in ihrem Zimmer ein. Sie legte sich nackt auf den Boden, an der Stelle, an der die Sonnenstrahlen durch die Ritzen der geschlossenen Balken ein Muster auf ihr malen konnten. Sie fragte sich, wozu sie einen Körper habe, all die Rundungen, Hügel und Täler. Sie wusste nichts damit anzufangen. Sie spürte eine unbekannte Schwere, als stapelten sich Bleigewichte auf jedem Quadratzentimeter. Sie suchte nach den Abdrücken der Last, suchte nach Dellen und Wunden, Einschnitten und Prellungen und fand bloß ihren schlanken, intakten Körper.
Die Traurigkeit spülte Lotti fort, sie war eine Insel, die blühende Landschaft verkarstet, und zum ersten Mal war sie froh über das selbstherrliche Desinteresse, das ihr zu Hause entgegenschlug.
Man war weiter aufgestiegen in der Hierarchie der selbsternannten Größen. Gäste, denen Lotti nie zuvor begegnet war, wurden wie alte Freunde empfangen, Lottis An- oder Abwesenheit bei Tisch kaum registriert. Während sie unten lachten, hockte Lotti in ihrem Kinderzimmer. Es war ihr fremd geworden, die Einrichtung schien ihr lächerlich und unpassend, das viele Weiß und Zartrosa, Blumen rankten sich am geschwungenen Kopfteil ihres Bettes entlang. Sie lauschte der Stille, wenn es ruhig war im Haus, und verachtete die Fröhlichkeit. Dass sie froh sein konnten, wenn das eigene Kind litt. Dass sie Schuld daran hatten, dass das eigene Kind litt. Dass ihnen das eigene Kind nicht sagen konnte, wie sehr es litt.
In wenigen Tagen war Ostern. Am Ostersonntag würde Veza für das Noviziat eingekleidet, das hatte sie Lotti bei ihrer letzten Begegnung erzählt, Lotti solle, nein sie müsse, zu ihrer Einkleidung kommen. Lotti war ihr eine Antwort schuldig geblieben, sie hatte keine Antwort. Sie konnte nicht dabei zusehen, wie Veza diese befremdliche Kleidung entgegennahm, schwere, dunkle Stoffe, unter denen sie verschwand, ihr Haar und ihre schmale Gestalt, ihr Duft und überhaupt die Körperlichkeit, die sie nun verstecken, der sie entsagen musste.
Lotti hatte sich immer auf Ostern gefreut. Sie liebte das Brauchtum und die religiösen Feierlichkeiten. Jahr für Jahr fuhr sie mit ihrer Tante für die Segnung der Osterspeisen zu einer Kirche am Stadtrand. Sie liebte es, im taubengrauen Wagen der Tante durch die Straßen zu schaukeln, sie genoss das Ruckeln, wenn die behandschuhte Hand den Schalthebel umlegte, einer ungekrönte Königin gleich, stolz und souverän, steuerte die Tante ihr Gefährt. Wenn sie vor dem schweren Bau aus Sandstein, der je nach Lichteinfall rostrot oder ockerfärbig schien, einparkten, ernteten sie neidische Blicke, und Lotti schwebte erhobenen Hauptes im Dirndl hinein. Der spätgotische Innenraum mit dem Kreuzrippengewölbe fiel nicht durch seinen besonderen Schmuck auf, die gut erhaltenen gotischen Bleiglasfenster und deren Anordnung in einer Achse von Westen nach Osten, vom Abend zum Morgen, fielen hingegen ins Auge. Die einfallende Sonne reiste dieser Achse entgegen und brachte das Glas zum Leuchten. Umgeben vom gleichmäßigen Gemurmel sah Lotti zu den Fenstern hinauf, ihre Augen blieben am Blau hängen, an seinen Schattierungen, Indigoblau, Kobaltblau und Königsblau. Magisch zog diese Farbe sie an, sie stellte sich vor, ein Insekt zu sein, das dieser geheimnisvollen Lichtquelle nicht widerstehen konnte, das sie umschwirrte und nie genug bekam, davon nie satt wurde.
Ländlich war es in dieser Gegend. Riesige Körbe drängten sich am Karsamstag um den Altar, ihr Inhalt blieb unter den aufwendig bestickten Tüchern verborgen. Bald würden sie die gefärbten Eier, die Schinken und Würste, den Kren und das süße Osterbrot hervorholen. Ostern war stets verheißungsvoll gewesen, es bedeutete Freude und Hoffnung, den Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Dieses Jahr war alles anders, dieses Jahr blieb die Auferstehung aus.
Lotti beschloss, Ostern ausfallen zu lassen und wurde von einer neuen Nuance des Schmerzes überrascht, als die Eltern ihre Entscheidung ohne viel Nachfragen hinnahmen. Die Tante war nicht bereit, ihre Verweigerung zu akzeptieren, aber auch sie erreichte wenig, obwohl sie die Launen der Nichte mit Nachsicht und Verständnis ertrug. Von ihr kamen keine besserwisserischen Weisheiten, kein Das geht nicht, das darfst du nicht, das kommt nicht infrage, sie konterte anders, ließ Unüberlegtes gelten, warf höchstens ein Bist du dir da sicher, oder Ja, wenn du meinst ein.
Die Schwester der Mutter war unverheiratet und kinderlos geblieben. Jede Art von Abhängigkeit war ihr ungut, jede Umarmung eine Gradwanderung zwischen Besitz ergreifen und beschützt werden. Männer waren ihr zu territorial, sie markierten ihre Reviere mit großspurigen Gesten und stellten sich breitbeinig vor ihren Ehefrauen auf. Sie gehörte nur sich selbst, mehr war darüber nicht in Erfahrung zu bringen.
Die Tante war eine bemerkenswert moderne Frau zu einer Zeit, in der man es nicht gewohnt war, Frauen etwas zuzutrauen. Sie besaß einen Führerschein, später auch einen eigenen Wagen, und hatte eine Schule gegründet, in der Stenografie und Maschinenschreiben unterrichtet wurden. Sie hatte eine natürliche Begabung für Autorität, die sich mit spielerischer Leichtigkeit paarte, und beherrschte den Balanceakt zwischen Fordern und Überforderung.
Ihre Modernität endete bei ihrer Wohnung. Dunkles Mobiliar, Spitzendeckchen und erdrückende Ölgemälde, dazu eine Beleuchtung, die die Wahl ließ zwischen blendender Helligkeit und ermüdendem Halbdunkel. Die Zimmer waren schlecht gelüftet, die Luft abgestanden, es roch immer nach Essen und Alter, selbst als die Tante noch jung war. Ihre Abende und Wochenenden verbrachte sie mit Kreuzworträtseln, mit dem Häkeln und Besticken von Kissenbezügen und mit Büchern.
Lotti kam gerne zu Besuch. Sie durfte die Tante zur Arbeit begleiten und erhielt eine Gratislektion im Maschinenschreiben. Es faszinierte Lotti, mit welcher Geschwindigkeit die Tante die Tasten bearbeitete, wie sie die Buchstaben durch die Mechanik treffsicher aufs Papier hämmerte und daraus Texte entstanden. Alles ging ihr schnell von der Hand, und Lotti hechelte atemlos hinterher. Der Luftstrom, der ihren Körper umgab, war beinahe sichtbar, er strömte den Beinen entlang aufwärts, bremste unter den Achseln kurz ab und beschleunigte am eckigen, voller Tatendrang in die Höhe gereckten Kinn.