Als hätten sie Land betreten. Claudia Sammer
und dem Wunsch nach Nähe gefangen. Möglich, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit wahrnahm, das selbstbewusste Auftreten nach außen und das innere Schwanken. Ihr, und nur ihr, hatte sie die Geschichte der Freundin anvertraut und das Versprechen abgerungen, niemandem davon zu erzählen. Die Tante erfüllte das mit Stolz und einem gewissen Bedauern darüber, sich gegen eine Familie entschieden zu haben. Vielleicht wäre sie eine gute Mutter gewesen. Mit ihrer Erzählung hatte Lotti die nüchterne Seite der Tante überrumpelt und eine heimliche, romantische Ader zum Schwingen gebracht.
Obwohl sie kinderlos geblieben war, zeigte sie mehr Verständnis als Lottis Eltern, und vielleicht war es gerade deswegen. Sie gewährte Lotti mehr Freiheiten, sie durfte eine eigene Meinung haben und Entscheidungen treffen, selbst wenn diese banal waren. Lotti bestimmte, wie lange sie am Abend aufblieb und wann sie essen wollte. Morgens aßen sie meist Sterz, am Abend Pumpernickel mit Ziegenkäse und zwischendurch jede Menge Mannerschnitten, die Tante hatte immer Schnitten dabei. Dennoch blieb die Tante zeitlebens dünn wie ein Strich. Nur einmal im Jahr, zu Ostern, wich sie von ihren Gewohnheiten ab. Sie füllte ihren Korb mit Bergen von Schinken, Eiern und Osterbrot, die eine vierköpfige Familie eine Woche lang ernährt hätten.
Als die Tante dieses Jahr erfolglos von dannen gezogen war, vergrub sich Lotti noch tiefer in ihrem Zimmer. Die Zeit wurde ihr lang, Trotz und Traurigkeit begannen schal zu schmecken. Der Gedanke, nie wieder ein unbeschwertes Osterfest feiern zu können, ärgerte sie. Sie riss Schranktüren und Schubladen auf, zerrte Hefte und Bücher, Stifte, Spangen, Röcke und Blusen hervor, entriss sie ihrem stillen Dasein, und schleuderte sie auf den Boden. Da lag es vor ihr, ihr unbedeutendes Leben. Lottis Wut steigerte sich weiter. Sie trampelte auf den Gegenständen herum, sie rissen und brachen unter ihren Füßen und Fäusten. Danach fühlte sich Lotti nicht gut, aber so, als hätte sie in einem Kampf obsiegt. Sie ging in die Knie und untersuchte den Feind. Sie hatte ganze Arbeit geleistet.
Lotti war nun friedlicher gestimmt und wühlte sich durch Fetzen und Scherben. Sie erzählten Geschichten von früher, von der Schule und von Veza. Sie entdeckte ein Heft mit Skizzen und erinnerte sich an das Malbuch, das die Eltern ihr einmal zu Weihnachten geschenkt hatten, eine Einführung in die Lehre der Proportionen und Bewegungsabläufe. Lotti hatte sich damals sehr gefreut und mit Feuereifer zu zeichnen begonnen. Mit den wiedergefundenen Skizzen tauchten Bilder auf. Bilder von den leuchtenden Augen der Mutter, wenn sie die scheinbare Mühelosigkeit hervorhob, mit der die Tochter Menschen, Hunde und Pferde zu Papier brachte, Bilder von Vezas roten Wangen, wenn sie lachte, und Bilder von Vezas feinen, schmucklosen Händen.
Lotti suchte nach einem Stift und begann zu zeichnen. Zögerlich zunächst, sich herantastend an Ausdruck und Gestalt, doch bald sicher, führte sie den Stift über das Papier. Während ihre Hand scheinbar wie von selbst Linien über das Blatt zog, begann die Angst in ihrem Bauch zu flattern, diese Angst, die sie in den letzten Wochen gespürt und nie zu fassen bekommen hatte. Als die Zeichnung fertig war, hörte das Flattern auf, und im selben Augenblick fühlte Lotti sich frei, befreit von dem Gefühl, sie könnte Vezas Gesicht vergessen. Sie konnte es nicht vergessen, sie hielt es in ihren Händen, schwarz auf weiß.
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