Selbstanzeige. Martin Zingg

Selbstanzeige - Martin Zingg


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      Martin Zingg

       bei Urs Engeler

      Martin Zingg

SELBSTANZEIGE

      (Auf der Flucht vor dem Zusammenhang gerate ich sofort in den nächsten.)

      ELF VÄTER

      Ich habe elf Väter.

      Der erste meiner Väter, er steht mir von allen am nächsten, hat bis zu diesem Tage immer so gelebt, als stünde ihm das Wichtige erst noch bevor. Was ist denn sein Wichtiges? Alles in seinem Leben ist Entwurf, immer noch, auch nach Jahren, er fasst am liebsten Pläne, und stets ist er sicher, dass es gleich so weit sein wird. Ich missbillige das nicht, wie könnte ich auch, allerdings wäre es mir zuweilen lieber, ich wäre ihm in der Art nicht so nahe verwandt, und Verwandtschaft nicht so prägend. Es wäre mir angenehmer, ich könnte seinem Treiben von außen zusehen, als ein wohlwollender Zuschauer, der von sich sagen kann, dass er anders lebt.

      Der zweite Vater und der dritte sind einander sehr ähnlich. Sie wollen sich nicht voneinander unterscheiden. Auch von anderen nicht, das vor allem. Ihr einziger Wunsch ist der, nicht aufzufallen, und aneinander üben sie diese Fähigkeit, die es mir in der Folge nicht leicht macht, sie auseinanderzuhalten. Es sind nicht nur die Kleider, die diese Einheit stiften, das ginge noch, nein, selbst die Ansichten gleichen sich. Streiten die beiden so lange, bis sie einer Meinung sind? Passt sich der eine dem andern an? Oder scheinen sie ganz einfach keine Wahl zu haben? Ich wüsste gerne mehr darüber. Aber mir gegenüber würden sie eine Differenz sowieso nie eingestehen, und erst recht nicht, wie sie dazu kommen, keine zu haben.

      In sieben Ländern oder mehr wird der Kaffee meines vierten Vaters getrunken, rastlos ist er unterwegs und führt Buch über alles. Am Jahresende steigt er die Treppe hinunter zum Wohnzimmer, ohne auf die Stufen zu blicken, er sieht auf seine Abrechnung und fürchtet keinen Sturz. Dann liest er vor, wieviel ich gekostet habe. Ich bin teurer geworden, wie jedes Jahr. Ich hätte wohl lieber nicht teurer werden sollen, aber was hilft es, alles wird teurer. Ich nehme es schweigend hin.

      Dass ich gerne reise, habe ich von meinem fünften Vater. Zwar belächle ich ihn, wenn er auf einer seiner seltenen Postkarten in winziger Handschrift gesteht, er habe es am fremden Ort schon wieder nicht gewagt, nach dem Weg zu fragen. Als ob er dort gar nicht hingehörte. Immerhin, sage ich mir, er ist noch unterwegs, er hält das aus, anders als der sechste Vater, der am liebsten zu Hause bleibt und mich alle zwei Wochen anruft, um mir zu sagen, dass er sich nicht festlegen will. Reisend, sagt er, sei er nirgends zu Hause und abhängig in allem. Ein Reiseziel würde ihn überdies für Tage binden, ohne ihm angesichts der zahllosen Möglichkeiten, die er mit seiner einen Entscheidung auszuschlagen hätte, auch die Gewissheit zu geben, richtig gewählt zu haben. Die richtige Wahl will er aber getroffen haben, bloß kann er dies nie mit Sicherheit wissen.

      Der siebte Vater erzählt noch immer von allem, was er hätte werden können, wäre ich nicht; und er ist nun das, was er hat werden müssen, weil es mich gibt. Er ist darum der Vater, der anklopft, nachdem er in mein Zimmer eingetreten ist. Nie vergisst er meinen Geburtstag, dem er wie einer immerwährenden Katastrophe begegnet, alle seine Leiden verbinden sich mit diesem Datum, das er jedes Jahr mit einem kurzen Brief begeht. Darin zählt er mir noch einmal auf, was aus ihm geworden wäre, müsste er mir nicht an diesem Tag ausgerechnet einen solchen Brief schreiben.

      Vom achten besitze ich keine Photographie, und so bleibt er schutzlos meiner Vorstellungskraft ausgeliefert, ein Mann mit Brille, so viel weiß ich. Das wenige Haar ist grau geworden mit den Jahren, für diese Gewissheit brauche ich keine Photographie. Er gleicht dem Mann, der ich werde.

      Von allen meinen Vätern hätte keiner so viel werden können wie der neunte. Diese Leichtigkeit in allem, was er früher anpackte. Diese Eleganz. Unbeschwert und doch nie ohne Bedacht. Und am Ende war er dennoch nur ein Zögernder, einer, der zu oft darüber nachgedacht hat, ob sich lohnen werde, was zu tun er sich eben anschickte, und der darum, was ihm mit Sicherheit gelungen wäre, voller Zweifel wieder aus der Hand gelegt hat. Gewiss hätte ihn die Zustimmung anderer seiner sicherer gemacht, aber es ist ungewiss, ob er sie hätte hören wollen. Nun traut er mir, als Folge seines Zögerns, zuviel zu, das weiß ich. Er erwartet alles von mir, alles, was ihm fehlt, will er bei mir eintreiben wie eine Schuld.

      Die meiste Nachsicht übe ich mit dem zehnten. Von ihm weiß ich zum Beispiel, dass er sich der vielen kleinen Lügen schämt, die das Leben, will es gemeistert sein, von jedem Menschen fordert. Diese winzigen Unwahrheiten, die er irgendeiner Bequemlichkeit, eines vergänglichen Vorteiles wegen vorbringen muss. Um sich etwas vom Leibe zu halten, dem er nicht gelassen gegenübersteht. Es sind ja gar keine Lügen, keine Lügen im strengen Sinn, sondern bloß das eine Mal eine unterlassene Widerrede und ein anderes Mal die vage hingemurmelte Zustimmung zu einer Ansicht, die er im Grunde nicht teilt und der er danach, wieder allein gelassen, umso hartnäckiger widersprechen wird, wenn auch von niemandem gehört. Dabei weiß er immer seltener mit Bestimmtheit zu sagen, was er wirklich meint. Ohnehin käme jeder Widerspruch zu spät. Kann ein Mensch, ohne in den Augen seiner Mitwelt an Charakter einzubüßen, nicht mehreres zur gleichen Zeit meinen? Muss er sich denn auf eine einzige Meinung beschränken?

      Mein elfter Vater ist Opfer seiner zahlreichen Gewohnheiten. Ich mag auch ihn, aber ich erkenne ihn immer seltener hinter seinen vielen kleinen Zwängen, die ihn manches zu tun veranlassen, was er vermutlich gar nicht mehr will. Seine wenigen neuen Gewohnheiten fallen mir deshalb auf, weil sie den alten in die Quere kommen und diese nicht ersetzen. Was soll ich dazu sagen? Er tut mir leid. Hat er nicht, mit den Jahren seines fruchtlosen Strebens, ein störrisches Wesen angenommen? Er ist mein Vater, trotz allem, wie die anderen auch. Und ich wäre, wenn ich mich suchte, überall dort, wo der eine Vater noch nicht aufhört und die zehn anderen schon begonnen haben.

      FILZ

      Alle Pläne zerschlugen sich. Ich bin nicht Schauspieler geworden. Nie habe ich mich lange genug verstellen können. Meine Brille ließ ich überall liegen und wurde sie trotzdem nicht los, meine Kurzsichtigkeit hält an. Ich bin noch immer nicht Antiquar, und nicht Pilot. Unzählige Absichten durchgestrichen, eine nach der andern. Alle Reisebücher über Bali habe ich gelesen, alle wichtigen Sachen darin farbig angestrichen, hingefahren bin ich dann doch nicht. Mit Brigitte im Tanzkurs, plötzlich ließ sie mich sitzen. Claudia forderte nach drei Wochen ihre Schlüssel zurück. Wir haben noch einige Male telefoniert, danach nicht mal eine Postkarte. Sieben Jahre Hochschule für Filmkunst in Bad Honnef, anschließend Rausschmiss, eine Film-Exposé-Maria hätte sehr langsam und mit sichtbar hautrötender Hingabe an einer Bratwurst herumnagen sollen, bitte, sowas Harmloses, der Film wäre ein Erfolg gewesen. Das nach der Neuorientierung notwendig gewordene Bewerbungsschreiben an die Weltbank wurde nicht beantwortet. Corinna verließ mich bereits nach der ersten Nacht. Alles ging schief. Dass ich den Filz erfunden und weltweit unentbehrlich gemacht habe in jahrelanger Arbeit, die Lungen seufzten im feuchten Keller, wo ich meine textilen Explorationen vorantrieb zum Frommen der Menschheit, die Gelenke quollen auf, bedenklicher Haarausfall und damit verbundene Erweiterung der Rohstoffpalette mit anschließender Veredlung des Textils, niemand hat es mir je gedankt. Das Patentamt, als ich vorstellig wurde, legte den Antrag vor meinen Augen zum Altpapier. Wer heute Filz trägt, auf dass ihm warm werde oder wenigstens bleibe und aller Feuchtigkeit Einhalt geboten sei, kennt noch nicht einmal den Namen des Menschen, dem er dieses Material verdankt. Nicht ein einziger Dankesbrief von einem Förster oder Zollbeamten oder Jäger oder einer spätexistenzialistischen Denkerin oder wem auch immer, null, nichts, nada. Keine Tantiemen auch, versteht sich. Ich bin frei von jeglicher Anerkennung, welche Form sie auch annehmen möge. Jede noch so sorgfältig geplante Aktion gegen meine andauernde und mit jedem Jahrzehnt immer qualvoller werdende Bedeutungslosigkeit verlief im Sande. Es nahm, nächste Kränkung, kein einziger Mensch davon Notiz, dass mich mangelnde Beachtung seitens der Mitwelt plagte. Jahre, fünf Jahre mindestens habe ich damit zugebracht, meine Erfolglosigkeit endlich und für immer in ihr Gegenteil zu wenden, aber selbst meine Briefmarkensammlung wollte mir niemand abkaufen. Nie bin ich auch nur eine einzige Briefmarke losgeworden. Einem Menschen wie mir, muss ich argwöhnen, kauft ein vernünftiges Wesen keine Briefmarke ab, auch keine gebrauchte. Da hilft nichts. Michaela wollte nie mit mir schlafen. Bloß mit mir ins Kino oder zum Chinesen. Noch nicht einmal Requisiteur


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