Selbstanzeige. Martin Zingg

Selbstanzeige - Martin Zingg


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den Filz erfunden habe in jahrelanger, entbehrungsreicher Arbeit. Keine Antwort auf meine umfangreichen Beschwerdeschreiben, umsonst das Porto, der Gang zur Post. Alle Mühe vergebens, das Buch der Klagen ein anschwellendes Konvolut, drei fette Ordner, kein Mensch wird sie je in die Hand nehmen. Für die Katz. Meine Brille bin ich nicht losgeworden. Unter Qualen habe ich darum, als schabe pausenlos ein feuchter Kragen wie Schleifpapier am wunden Nacken, zwar keineswegs untätig, jedoch todtraurig, offensichtlich jeden Glückes unwürdig, zusehen müssen, wie es mir ergeht, und dabei die Brille immer wieder voller Demut hochgeschoben. Es ist, selbstverständlich, ein zutiefst, was sage ich, ein unendlich grauenerregender Anblick, den ich niemandem zumuten möchte.

      (Ob das Gerät wirklich brauchbar ist, weiß ich immer noch nicht. Auf jeden Fall hat es bisher nicht funktioniert, keine Sekunde lang, es war ein Fehlkauf. Die Verpackung viel, unendlich viel größer als der Inhalt, wie immer. Und natürlich hätte ich sofort anrufen sollen, ich hätte sagen sollen, das ist ein vollkommen unausgereiftes Gerät, das ist einfach Ramsch, aber ein ziemlich teurer Ramsch, das können Sie ja nicht ernst gemeint haben. Und ich weiß: das ist so gemeint, das ist so, das muss halt sehr schnell auf den Markt, vollkommen unausgereift, die Geräte werden auf den Markt geschmissen, sobald es eine Verpackung dafür gibt, und dazu wird noch eine Helpline angegeben, irgendeine Telefonnummer, die einem helfen soll, wobei die Hilfe einiges kostet, und über diese Helpline sollen wir alle dazu beitragen, dass das Gerät nun besser wird, wir beschweren uns, wir machen Vorschläge, die Firma erfährt, weil sie ja das Gerät keine Sekunde lang getestet hat, wo die Probleme liegen, wir arbeiten mit an der Verbesserung oder vielmehr Entwicklung des Gerätes, immer mit der Helpline, jedesmal, wenn wir die Helpline wählen, gibt es einen kleinen Schritt nach vorn, aber davon habe ich nichts, weil ich das Gerät schon gekauft habe, und zwar in einem Stadium, da es eben noch nicht die Verbesserungen hatte, die jetzt möglich geworden sind, weil ich die Helpline gewählt habe, die Helpline hilft ja nicht mir, sie hilft der Firma. Dazu eine Bedienungsanleitung in 17 Sprachen und in jeder vollkommen unverständlich. Also muss ich anrufen. Das wollen die doch. Dass ich anrufe. Ich muss alle Fehler aufzählen, und ich muss auf diese Weise mitarbeiten, gratis natürlich. Absolut unausgereift. Die Helpline will nichts wissen von meinem Problem, sie will wissen, wie die Verbesserung aussehen könnte, die Helpline nimmt jeden Vorschlag entgegen und bezahlt für keinen, selbst diesen Anruf werde ich bezahlen.)

      DIKTAT

      Aus den Bäumen vor dem Fenster schießt das erste Grün, ich merke das bloß, weil davon das Zimmer dunkler wird in diesen Tagen. Ich sitze am schmalen Tisch, den Rücken zu ihr, ich sehe nur die Bäume, aufbrechendes Zartgrün, Chlorophyll, die Schreibmaschine gehorcht mir nicht. Meine Finger gehorchen mir nicht. Ihr Atem geht schwer. Ich höre sie manchmal nach Luft schnappen, es ist, als stiege um sie herum das Wasser und das Schwimmen fiele ihr schwer. Lieber Charles, liebe Ida. Oder sie heißen anders. Lieber Christopher, liebe Dolores. Ich verstehe jedes Wort. Aber ich begreife nichts. Nur gut, dass ich nicht darauf gefasst bin, Briefe zu schreiben. Die letzten Diktate, vor vierzig Jahren, waren Übungsdiktate, ich lernte eine neue Sprache, ich musste die eine üben und die andere Sprache nicht vergessen. Was lerne ich jetzt? Ich schreibe Euch, lässt sie mich schreiben, die Maschine gehorcht meinen Fingern nicht, oder anders, ich muss ein neues Blatt einspannen, ich darf hier keine Fehler machen. Kein Wind in den Bäumen, das fällt mir auf, es ist noch immer still in den Straßen. Ob sie einen Tee möchte. Nein, sie will keinen, ich will auch keinen. Ich säße am liebsten nicht hier, das sage ich nicht. Später wird sie mir fehlen, aber was hilft mir das jetzt. Unter den Bäumen wäre ein Ort, aber vermutlich ist es draußen noch kalt, und wäre ich nicht hier, ich hielte es auch anderswo nicht aus. Bist du schon fertig, fragt sie, sie dreht sich gegen die Wand, langsam, den ausgezehrten Mutterkörper hält kein Widerstand. Sie kann nicht gehört haben, wie ich immer wieder neue Blätter einspanne. Sie möchte noch einmal danken für alles, bitte keine Besuche, das muss erst am Schluss stehen, vielen Dank noch einmal, das kommt zuerst, und Dir noch einige schöne Jahre. Oder schreib auch: interessante Jahre. Schöne und interessante Jahre, ja. Oder schreib das besser nicht. Ich habe, als ich diese Sätze schreibe, keine Ahnung, wie es später sein wird, diese Sätze geschrieben zu haben. Wie es sein wird, wenn sie nicht mehr diktieren kann. Die Bäume werden immer grüner. Wohin soll ich denn sonst sehen? Meine Finger sind lahm. Es ist April oder März. Eher April. Es bleibt April. Stundenlang bleibt es April, ganze Morgen lang. Das Ticken der schweren Wanduhr, etwas anderes höre ich nicht. Und der schwere Atem aus dem Bett in meinem Rücken, ich wage nicht, mich umzudrehen, ich hielte, sähe sie her, dem Blick nicht stand. Dear Charles, der Anfang gelingt mir immer, der Anfang ist das leichteste, aber wie soll das Ende aussehen? Sie werde dann von Hand unterschreiben, sagt sie, das könne sie noch. Ich habe meine siebzig Jahre im Allgemeinen genossen, diktiert sie, sie will die Zahl nicht ausgeschrieben, bloß Ziffern, bitte keinen Besuch. Das mit dem Besuch ganz am Schluss. Stundenlang bleibt es April, und ich schreibe, sie versuche, schreibe ich, to thank you at the same time for your love and friendship. Ich werde ein neues Blatt einspannen müssen. Bist du schon fertig, fragt sie, aber ich brauche mich nicht zu beeilen, sie dämmert wieder weg, mit kleiner werdenden Atemstößen, sie wird aus dem April nicht herauskommen. Das Fenster vor mir ist ein Spiegel, sie fährt sich mit einer wächsernen Hand übers Haar, ich sehe es, ich muss mich nicht umdrehen, dann fällt die Hand ins Kissen. I had a good life usw. Hätte ich das von Hand geschrieben, sagt sie, das könnte ja niemand lesen. Ihre Finger gehorchen ihr nicht mehr. Aber ich will das dann unterschreiben, wenn du fertig bist. In der Nähe das Rumpeln eines Lastwagens, es ist sonst immer sehr ruhig in dieser Gegend. Nur wenige Taxifahrer, habe ich gemerkt, kennen diese Straße, immer muss ich die nächste Kreuzung nennen, erst dann können sie nicken. Sie blickt hoch, mit einer mühsamen Drehung, sieht hinüber zur Strickjacke, die über dem Stuhl hängt, und vielleicht ist es auch nicht die Strickjacke, die ihr jetzt vor Augen ist. Später werde ich wissen wollen, wann der letzte Blick fiel, der letzte von unzähligen Blicken, dabei ist anzunehmen, dass es diesen letzten Blick gar nicht gibt. Regnet es draußen? Nein, tut es nicht, und eigentlich weiß ich das längst, als ich näher ans Fenster herantrete. Dir noch schöne und interessante Jahre. Es war einmal, da bekomme ich ein Geschenk von Charles und Dolores, weil ich der Sohn bin, wie alt, vielleicht sieben, vielleicht zehn Jahre alt, von dieser Vergangenheit weiß ich nur aus Erzählungen. Ich sehe nach hinten, sie schläft wieder, ihr Mund ist leicht offen, schimmernde Wangen, ihre Ohrenclips hat sie abgelegt. Daneben, auf dem kleinen Tisch, liegen drei Photoalben, mit Pergamenteinlageblättern, die Photos sind winzig. Sie mag sie schon länger nicht mehr anschauen. Sie erkenne die Personen nicht mehr, es strenge sie an. Was werden wir damit machen? Niemand wird mir die Photographien erklären können. Es stehen Namen darunter, Jahreszahlen, aber ich kenne die Namen nicht, oder nur wenige. Sie werden seltsam werden, die Photos, sie sind es jetzt schon, sie enthalten mir etwas vor, und ich weiß nicht, was. Sekundenbruchteile aus einer fernen Zeit. Das Leben, aber was fange ich jetzt damit an, ist in jedem Moment der Beginn einer Erinnerung. Später, wenn ich die Briefe geschrieben haben werde, könnte ich noch Fragen stellen, was früher war, aber ich kann das nicht. Ich werde mir selber einfallen lassen müssen, was früher war, irgendwann werde ich mich entscheiden. So war es einmal, und darum ist alles Übrige so.

      BEGEGNUNG

      Ich hatte mich bereits gewöhnt an den weichen Gang des Körpers, der vor mir ging. Beinahe waren wir unzertrennlich, wir zwei in der Großstadt, ein Abstand von bloß zwei Metern, mehr ließ ich, ohne es zu merken, nicht zu. Es sah nicht aus wie eine Verfolgung. Es sah nur aus wie zwei, die ungern nebeneinander gehen und dennoch größtmögliche Nähe suchen. Die Absprache war einseitig, also genaugenommen keine, denn inzwischen hatte die Frau gemerkt, dass ihr jemand folgte. Überraschend drehte sie sich um, stellte sich im Umdrehen mit dem Rücken an eine Hauswand und riss gleichzeitig blitzschnell ein Bein hoch und winkelte es spitz von der Wand weg. Beinahe wäre ich in ihr vorgestrecktes Knie gestoßen, sie blickte mich kühl an, ich war darauf nicht gefasst. In so kurzer Zeit eine angenehme Art des Gehens herauspräpariert, fast schon eine liebe Gewohnheit, ohne hinunterzublicken über Trottoirränder geschritten, immer auf Sichtweite, aber gedankenlos. Mich darin wohl gefühlt und nun aus dem Tritt gefallen. Wie einer, der plötzlich realisiert, dass man aus seinem Verhalten eine Absicht herauslesen kann, von der er nichts ahnt, und die er auch nicht zugeben würde. Wo sie nun stehen, ist wenig Licht. In der Nähe ein Hauseingang,


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