Auf Herz und Nieren. Stefan Loß
gründlich nachgedacht, um mich mit einfachen und platten Antworten abzufinden. Dass das die ideale Vorbereitung auf meine spätere Arbeit als Journalist war, konnte ich damals natürlich noch nicht ahnen.
Die Entscheidung
Am 4. April 1976 habe ich zum ersten Mal laut und öffentlich „Ja“ zu Gott gesagt. Es war mein Konfirmationsgottesdienst. Damit waren längst noch nicht alle Fragen in meinem Leben beantwortet. Aber ich hatte mich entschieden, dass Gott sozusagen der archimedische Punkt4 in meinem Leben sein sollte. Das Zentrum meiner Existenz, mein Sinn und mein Halt in allem, was kommt. Ich habe mich entschlossen zu glauben, dass er mich gewollt hat, dass er mich geschaffen hat und dass er mich bedingungslos liebt und immer bei mir ist. Ganz egal, was kommt. Natürlich weiß ein Dreizehnjähriger noch nicht viel vom Leben. Aber durch diesen Glauben habe ich meine innere Mitte gefunden. Und dafür bin ich Gott noch heute von Herzen dankbar.
Glauben lernen
Auf meiner persönlichen Glaubensreise bin ich auf einen Vers aus der Bibel gestoßen, der mein Lieblingsvers geworden ist, weil er den Unterschied zwischen Religion und Glauben sehr gut auf den Punkt bringt. Es ist ein bekannter Vers, der erst durch eine andere Übertragung für mich zu einem echten „Hingucker“ geworden ist. Beim Lesen der englischen Übertragung „The Message“ ist mir die Formulierung aufgefallen: „Religious Burnout“ – also: religiöser Burn-out. Als ich mir den Vers dann näher angeschaut habe, war ich überrascht. Der Vers, den ich als die Aufforderung kenne, dass ich bei Jesus meine Lasten ablegen kann – „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid“ –, hat nämlich ursprünglich eine sehr besondere Bedeutung.
Hier die Version aus „The Message“5 (Matthäus 11, 28-30):
“Are you tired? Worn out? Burned out on religion? Come to me. Get away with me and you’ll recover your life. I’ll show you how to take a real rest. Walk with me and work with me – watch how I do it. Learn the unforced rhythms of grace. I won’t lay anything heavy or ill-fitting on you. Keep company with me and you’ll learn to live freely and lightly.”
Frei übersetzt sagt Jesus nichts anderes als:
„Bist du müde, ausgepowert, ausgebrannt durch ‚Religion‘? – Komm zu mir, geh mit mir zusammen weg und du wirst dich erholen. Ich zeige dir, wie du richtig zur Ruhe kommst. Geh mit mir, schau mir zu beim Arbeiten. Lerne in dem schwerelosen Rhythmus der Gnade zu leben. Ich werde dir nichts auferlegen, was du nicht tragen kannst. Bleibe bei mir und du wirst lernen, wie man frei und leicht lebt.“
„Zur Ruhe kommen“ … der „schwerelose Rhythmus der Gnade“ … das waren Worte, die mir direkt ins Herz gingen.
„Frei und leicht“ zu leben: Genau das war mein Traum.
Was für eine Offenbarung war es für mich, diesem altbekannten Text in neuen Worten zu begegnen!
Der Glaube, den Jesus gepredigt hat, ist keine Sammlung von Spielregeln und Gesetzen. Bei Gott ist eine Schulter, an die ich mich anlehnen kann. Ein Ort, an dem meine Seele zur Ruhe findet. In seiner Gegenwart „bin“ ich.6 Das ist tatsächlich die beste Botschaft aller Zeiten.
Glauben leben
Weil jeder Mensch anders ist, lebt auch jeder den Glauben anders. Deshalb sind auch die Lebensgeschichten von glaubenden Menschen so unterschiedlich. Es sind genau diese persönlichen Geschichten, die ich liebe. Seit fast dreißig Jahren arbeite ich als Redakteur, Autor und Moderator – die allermeiste Zeit davon für Sender und Programme, die über Menschen berichten, die an Gott glauben. Es waren unfassbar viele Interviews und Begegnungen, in denen die unterschiedlichsten Facetten von Glauben sichtbar geworden sind. Ich war in vielen Ländern Europas unterwegs, in Afrika, in Lateinamerika, in Sri Lanka und in Indien. Oft habe ich Menschen porträtiert, die durch große Herausforderungen gegangen sind. Von ihnen wollte ich wissen, wie ihr Glaube an Gott sie durch diese Situationen durchgetragen hat. Wie sie in herausfordernden Situationen Halt im Glauben gefunden haben. Eine Frage, die mich nach wie vor selbst interessiert. Natürlich ahnte ich nicht, in welche Herausforderungen ich selbst noch geraten würde. So gesehen haben mich diese Begegnungen vorbereitet auf meine eigenen Herausforderungen durch meine Krankheit.
Ich bin überzeugt davon: Glaube wird sichtbar und greifbar in den Brüchen des Lebens. Wenn alles glattläuft, interessiert die Frage nach Gott oder nach einem Halt im Leben nur die wenigsten. Aber wenn Herausforderungen kommen, dann wird schnell nach dem Sinn und Halt im Leben gesucht. Deshalb habe ich Christen genau danach gefragt. Auch, wenn mir das manchmal nicht leichtgefallen ist.
Glauben erleben
Im Laufe meines Berufslebens habe ich in viele menschliche Abgründe geschaut. In einem Hochsicherheitsgefängnis in Argentinien habe ich Menschen erlebt, deren Leben sich durch den Glauben an Gott komplett gewandelt hat. Ich erinnere mich an ein Interview mit einem freundlichen Mann mit einer Bibel unter dem Arm. Er lächelte mich an, und ich fragte ihn, warum er hier sei. Sieben Menschen hatte er ermordet, sagte er. Er berichtete von seiner Wut und seinen Aggressionen. Ich konnte kaum glauben, was er erzählte. Auf mich wirkte es wie ein Märchen. Wären da nicht die Wärter gewesen, die mir seine Geschichte bestätigten. Hier im Gefängnis war der Glaube an Gott in sein Leben gekommen und hatte ihn völlig verändert. Heute ist er einer der Pastoren in der Gefängnisgemeinde mit mehr als 1.500 Mitgliedern.
Ein Mörder predigt die Liebe Gottes, legt anderen Männern die Hand auf die Schulter und betet für sie. Freundlich, liebevoll, voller Empathie. Zum Abschied habe ich ihm fest die Hand gedrückt und lächelnd sagte er: „Gloria Dios“ – „Ehre sei Gott!“ Für mich war das wieder einer dieser Momente, wo ich absolut sicher war: Das mit Gott ist kein Hirngespinst. Das ist echt.
Eine Herz- und eine Nierentransplantation
In der Schweiz habe ich einen Film über einen Unternehmer gemacht, der schwer herzkrank war. Er erzählte mir davon, wie es war, als er dem Tod ins Auge schauen musste. Wenige Jahre vorher wollte sein Herz kaum noch arbeiten. Vergeblich hatte er auf eine Transplantation gehofft. Eines Tages war ihm klar, dass er die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht überleben würde. An diesem Abend versammelte er seine ganze Familie um sich. Die Frau, die Kinder, deren Partner und die Enkelkinder. Von jedem Einzelnen hat er sich verabschiedet. Einen nach dem anderen hat er gesegnet und ihnen Frieden gewünscht. Er selbst hatte seinen Frieden gemacht und war bereit zu sterben. „Wir sehen uns wieder – im Himmel.“ So schwach und doch so stark.
Sein Glaube hat ihm Frieden gegeben, als sein Leben zu Ende gehen wollte.
Mitten in der Nacht saß nur noch seine Frau an seinem Bett und hielt seine Hand. Wartete auf den letzten Atemzug. Plötzlich hörte er einen Hubschrauber. Und sagte leise: „Mein Herz kommt“. Es war tatsächlich sein neues Herz, sein neues Leben. Er wurde in letzter Sekunde transplantiert. Er hat es überlebt und er war dankbar. Aber er hatte auch erlebt, dass Gott ihn bis zuletzt trägt und ihm im Angesicht des Todes einen tiefen Frieden geschenkt hat.
Für diesen Beitrag haben wir auch an einer Schweizer Klinik gedreht. Eigentlich sollte es nur ein Interview mit dem Professor werden, der für Transplantationen zuständig war. Leider kam ihm ein OP-Termin dazwischen. Deshalb lud er uns kurzerhand ein, im OP während der Operation zu drehen. Natürlich haben wir diese Einladung dankbar angenommen. Es war eine Nierentransplantation. Hätte ich damals schon gewusst, dass das für mich selbst einmal ein Thema werden würde, hätte ich sicher noch interessierter dabei zugeschaut.
Frieden mit sich selbst. Und Vergebung.
Tief