Eine Geschichte des Krieges. Группа авторов
befand. Tatsächlich kamen sich die Völker täglich näher: Kommunikation, Transport, Bildung machten überall Fortschritte; regelmäßig wurden neue internationale Gruppen und Vereinigungen gegründet. Die Friedensvereine florierten in Frankreich, in Italien, in Österreich und sogar im militaristischen Deutschland, wo es zur Jahrhundertwende fast zweihundert davon gab. Das Völkerrecht trug dieser Revolution Rechnung. Juristen ergründeten die Mittel zur friedlichen Beilegung justiziabler Differenzen zwischen Staaten dank Werkzeugen wie Schiedsgerichten und Schlichtung. Ein französischer Verein, »La Paix par le droit« (Frieden durch Recht), wurde 1887 genau zu dem Zweck gegründet, solche Praktiken zu fördern. Es fanden internationale Treffen statt, um sie in institutionalisierte Form zu bringen, wie das 1899 und 1907 in Den Haag der Fall war. Mit seinem Testament stiftete Alfred Nobel einen Preis, der genau zur Unterstützung dieser Initiativen vorgesehen war, und der erste Friedensnobelpreis ging 1901 an Henry Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes, sowie an Frédéric Passy, den unermüdlichen Friedensaktivisten und Gründer unter anderem der Interparlamentarischen Union. Zur gleichen Zeit vertraten Essayist*innen wie Norman Angell die Auffassung, dass in einer wirtschaftlich verflochtenen Welt der Krieg selbst bei einem Sieg eine Kostenfalle sei: Welche Regierung würde mit klarem Kopf einen derart riskanten Weg für ihr Volk einschlagen? Mehr brauchte er nicht, um in seinem Bestseller von 1911, The Great Illusion, das zukünftige Obsoletwerden des Krieges vorherzusagen. Die Zukunft gehörte entschieden dem Frieden. Und dennoch brach im August 1914 der Krieg aus, und französische, deutsche, britische Verfechter*innen des Friedens schlossen die Ränge mit ihren nationalen Armeen.
Das »Recht auf Frieden«
Über den »Gesinnungsumschwung« der Pazifist*innen 1914 ist viel geschrieben worden. Er ist die Erbsünde, an die nur die zweite Sünde fünfundzwanzig Jahre später heranreichen sollte, als man ihnen vorwarf, durch ihre unbedachten und sinnlosen Reden, durch ihre Weigerung, der Bedrohung durch Hitler ins Auge zu sehen, kurz durch ihren Willen zum Appeasement, den Zweiten Weltkrieg mitverursacht zu haben. Versuchen wir, die Situation besser zu verstehen.
Im Sommer 1914 stellten sich die deutschen, französischen, britischen Sozialist*innen hinter ihre jeweiligen Regierungen und gaben diesen Rückendeckung für den Kriegseintritt ihres Landes. Einige Wochen zuvor hatten sie über die Gelegenheit, einen Generalstreik zu organisieren, diskutiert, um einen europaweiten Krieg zu verhüten. Am 31. Juli 1914 beschleunigte der Mord an Jean Jaurès, Galionsfigur des europäischen Sozialismus, Fahnenträger des Friedens, den Zusammenbruch der internationalistischen und pazifistischen Bewegung. Die deutschen Sozialist*innen stimmten in Reaktion auf die Generalmobilmachung in Russland als Erste für den Krieg, ihre Einschätzung war, dass das Zarenregime bekämpft werden müsse, um den Sozialismus in ihrem eigenen Land besser retten zu können. Als Nächstes folgten die französischen, dann die britischen, die sich auf die Völkerrechtsverletzung nach dem deutschen Einmarsch in Belgien beriefen. Insgesamt blieb nur eine kleine Minderheit der europäischen Sozialist*innen bei ihren Vorkriegspositionen. Die anderen hatten sich entschlossen, ihr Vaterland zu verteidigen. Doch handelte es sich um einen Verrat der Pazifist*innen?
In Wahrheit war der Sozialismus 1914 nur ein Internationalismus des Friedens unter vielen. Frieden und Sozialismus in eins zu setzen wäre reduktionistisch. Außerdem hatten in diesem europaweiten und bald auch weltweiten Krieg fast alle, ob berechtigt oder nicht, das Gefühl, dass ihre Nation angegriffen wurde. Aus Sicht der Friedensvertreter*innen ist es aber gerechtfertigt, gegen einen Angreifer zu den Waffen zu greifen. Frieden und Patriotismus widersprechen sich nicht zwangsläufig. Allerdings ist offensichtlich, dass der Erste Weltkrieg die pazifistische Bewegung ernsthaft auf die Probe stellte und vorübergehend aus dem Tritt brachte. Nichtsdestotrotz verbreitete sich das Friedensideal während des Krieges in bis dahin ungekanntem Ausmaß. Zwar hat der Flächenbrand den übertriebenen Optimismus seiner Anhänger*innen offenbart, doch zugleich hat der Konflikt das Nachdenken über die Mittel zur zukünftigen Verhütung einer solchen Katastrophe noch aktueller und notwendiger gemacht. In Amerika vertrat Präsident Woodrow Wilson ab August 1914, dass sein Land, für das er sich nachdrücklich eine neutrale Position wünschte, gewissermaßen für das Friedensideal bürge: Es falle den Vereinigten Staaten zu, die Werte der internationalen Eintracht und des Völkerrechts zu wahren, bis die europäischen Mächte zur Vernunft kämen. Trotz Kriegseintritt seines Landes im April 1917 veränderte sich der Diskurs des amerikanischen Präsidenten über den Frieden nicht grundsätzlich. Im Gegenteil präzisierte er nach und nach seine Vision für den Frieden, bis er zu dessen Galionsfigur auf globaler Ebene wurde. Auch Papst Benedikt XV. in Rom rief zu dauerhaftem Frieden, Abrüstung und Aufbau einer internationalen Organisation zur Beilegung der Differenzen auf. Im Vereinten Königreich prangerten verschiedene Vereinigungen wie die League of Nations Society, die Bryce Group, die Union of Democratic Control die »europäische Anarchie« (Titel einer Monografie G. Lowes Dickinsons von 1915) an und riefen die Staaten dazu auf, ihr Verhalten zu ändern und internationalen Frieden zu stiften. Eine angesehene amerikanische Vereinigung, die League to Enforce Peace, wurde im Sommer 1915 auf derselben Grundlage ins Leben gerufen. Je länger sich der Krieg hinzog, desto mehr Zustimmung gewann die Idee einer drakonischen Umgestaltung der internationalen Beziehungen. Mehrere Hundert Konzepte für einen dauerhaften Frieden wurden veröffentlicht, während der Konflikt wütete. Das ist das Paradox eines »Großen Krieges für den Frieden«1.
Die Nachkriegszeit markierte den Beginn des Massenpazifismus. Diese neue Größenordnung wurde oft aus der tiefen Ablehnung der Gewalt erklärt, rührt aber ebenso sehr aus einer tiefgreifenderen Entwicklung her, die mit den Konzepten der Staatsbürgerschaft und der Menschenrechte zusammenhängt. Präsident Wilson beschwor von den Vereinigten Staaten aus unermüdlich die neue Macht der Weltöffentlichkeit – heute würde man von »internationaler Zivilgesellschaft« sprechen –, die nach seiner Überzeugung zukünftig mit ihrem ganzen Gewicht die Handlungen der Staaten beeinflussen würde. Die Bürgerinnen und Bürger hatten von nun an bei den internationalen Fragen ein Wörtchen mitzureden. Gefordert wurde dieses »Recht auf Frieden« auf Grundlage der Anstrengungen, zu denen die Bevölkerung während vier Jahren bereit gewesen war: Es war unvorstellbar, dass das Opfer von Millionen von Menschen, nachdem der Konflikt einmal zu Ende war, lediglich auf Gebietsveränderungen und finanzielle Kompensation hinausliefe. So kam nach 1918 eine unerhörte Sehnsucht nach Frieden auf, die von Millionen von Menschen und Tausenden von nationalen wie internationalen Vereinigungen getragen war. Zahlreiche dieser Vereinigungen bestanden aus früheren Kämpfern, die die Schlacht am eigenen Leib erfahren hatten und genau aus diesem Grunde lautstarker denn je ihre Stimme gegen den Krieg erhoben.
Die internationalen Verhältnisse der Zwischenkriegszeit boten jedoch ein trauriges Bild. Die Beendigung des Krieges nahm viel Zeit in Anspruch, während der durch den Konflikt hervorgerufene Hass und die Gewalt in verschiedenen Formen fortbestanden. Der mangelnde Erfolg des Idealismus Wilsons und des Völkerbundes, die fragile Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, die ideologischen Spannungen zwischen Demokratien und autoritären Regimen: so viele Anzeichen einer desolaten Nachkriegszeit, die nur selten vom Aufblitzen des Pazifismus durchbrochen wurden wie bei der Unterzeichnung des Briand-Kellog-Paktes 1928, der den Krieg »gesetzwidrig« machen sollte. Das ist der Grund, weshalb im Nachhinein die »Illusion des Friedens«, die sich nach dem Ersten Weltkrieg über die gesamte Welt ausbreitete, so viel kommentiert wurde. Ein verpfuschter Frieden? Wir müssen aufhören, die Entscheidungsträger von 1919 und die Friedensvertreter*innen für alle Probleme der Zeit verantwortlich zu machen, denn es waren vor allem die durch den Krieg hervorgerufenen Streitfragen, die die Nachkriegszeit unterminierten. Der Massenpazifismus erschien infolgedessen als tief empfundene Abwehrreaktion gegen die Gewalt des Krieges und der Nachkriegszeit, gespeist zunächst aus der Absurdität eines Konflikts, dessen Sinn sich dem Verstand entzog, und dann aus kleinkarierten und dem neuen Geist widersprechenden nationalen Politiken. Die Periode spiegelt letztendlich die labile Position von Staaten, die das Wort »Frieden« lediglich im Munde führten, deren Handeln damit aber nicht in Einklang stand. Nichts zeigt diese Dissonanz deutlicher als die Konferenz zur Abrüstung und Rüstungsbeschränkung, die 1932 in Genf stattfand.
Die seit Mitte der 1920er Jahre vorbereitete Konferenz wurde als Höhepunkt eines Jahrzehnts der staatlichen Friedensbemühungen präsentiert. Auf die