Mord im Auwald. Beate Maly
wollte zu gern wissen, mit wem er sich gestritten hatte. War es etwa Frau Magyar, die sich am Nachmittag darüber beschwert hatte, dass er seiner Tochter ein Schmuckstück vorenthielt? Doch gerade als sie nachfragen wollte, trat einer der fünf Künstler nach vorn. Er erhob seine Stimme und bat um Ruhe. Die Unterhaltungen verstummten und die Aufmerksamkeit aller Zuhörer war auf den Pavillon gerichtet. Mit unglaublicher Stimmgewalt begannen die Männer zu singen. Während zwei im Duett lustige Texte zum Besten gaben, summten, stampften und klatschen die anderen mit. Es klang wie ein gewaltiges Orchester. Ernestine war sofort in ihren Bann gezogen, und sie vergaß, dass sie eigentlich noch eine Frage hatte stellen wollen.
ACHT
Antons Ruhe währte nicht lange. Kaum, dass er in einen seligen Halbschlaf gefallen war und von unbeschwerten Tagen mit Ernestine und Rosa träumte, wurde er von einer hohen Stimme geweckt.
»Nein, was für ein süßes Hündchen du bist!«
Anton blinzelte. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder zurechtfand. Eine Gelse surrte an seinem Ohr, er vertrieb das unliebsame Insekt. Die Sonne war vollständig untergegangen, doch ein Vollmond sorgte für ausreichend Licht. Schlaftrunken richtete er sich auf. Minna lag nicht mehr neben ihm. Sie stand beim Zaun und ließ sich von einer Frau, die ihren Oberkörper vollständig über das Gartentor beugte, hinter den Ohren kraulen. Umständlich rappelte Anton sich aus dem Liegestuhl auf.
»Minna, komm her«, forderte er. Die Cockerspaniel-Dame ignorierte ihn und ließ sich weiter streicheln.
»Ach, lassen Sie sie doch. Sie ist ein so liebes Tier«, bat die Frau.
Also ging Anton zu ihr.
»Haben Sie die Hütte von Herrn Goldblatt gekauft oder bloß gemietet?«
»Weder noch, Simon ist ein Jugendfreund, der mich eingeladen hat, hier den restlichen Sommer zu verbringen.«
»Der gute Herr Goldblatt, er ist ja immer so beschäftigt. Wie schade, dass er seine Hütte so selten nutzt.« Die Frau seufzte laut, was die Vermutung nahelegte, dass sie sich wünschte, Antons Jugendfreund öfter im Auwald zu sehen.
»Herrn Goldblatts Freunde sind auch meine«, sagte die Frau. »Darf ich mich vorstellen, Fräulein Clementine Jürgens. Ich wohne in der ›Froschvilla‹ am Ende der zweiten Reihe.«
Sie hob das Wort »Fräulein« besonders hervor.
»Anton Böck.« Er streckte der Dame die Hand über den Zaun entgegen.
Sie war an die fünfzig und verfügte, wie einige andere Frauen, denen Anton heute begegnet war, über eine außergewöhnlich ausladende Oberweite. Ein großzügiger Ausschnitt gewährte den Betrachtern tiefe Einblicke. Auch das überraschte Anton mittlerweile nicht mehr. Es schien in Kritzendorf üblich zu sein, sich nur spärlich zu kleiden. Ihr schulterlanges Haar war seltsam gefärbt und sah im fahlen Mondlicht lila aus.
»Was führt Sie so spät noch durch den Auwald?«, erkundigte sich Anton.
»Ich bin es gewohnt, abends ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen«, sagte Fräulein Jürgens. »Bis vor Kurzem hatte ich auch einen Hund.« Ihre Stimme brach, sie wischte sich über die Nase. »Meine Fifi war mein Ein und Alles. Sie ist vor zwei Wochen gestorben.«
»Oh, das tut mir sehr leid«, sagte Anton betroffen.
Die Dame fing an zu weinen, und Anton suchte in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch. Tatsächlich hatte er zuvor ein frisches eingesteckt. Hilfsbereit reichte er es Fräulein Jürgens.
»Vielen Dank«, sagte sie, tupfte zuerst ihre geschminkten Augen trocken und prustete dann lautstark hinein. Sie gab das nasse Tuch Anton wieder zurück, doch der machte eine ablehnende Geste.
»Sie können es gern behalten.«
»Ich werde es waschen.«
»Das ist nicht notwendig, bitte. Ich habe genug Taschentücher.«
Die Dame hatte sich wieder gefasst. Sie schaute immer noch ganz verliebt zu Minna. »Meine Fifi hatte die gleichen vertrauensseligen Augen. Was würde ich dafür geben, wenn sie noch lebend bei mir wäre.«
»Ja, es geht wirklich schnell, dass man sein Herz an ein Tier hängt«, antwortete Anton.
»Zum Glück habe ich ihre Urne. Die gibt mir Trost.«
Anton griff sich ans Ohr und kontrollierte, ob noch Wasser vom Schwimmen am Nachmittag darin war. Sicher hatte er sich eben verhört.
»Bitte entschuldigen Sie. Was gibt Ihnen Trost?«
»Fifis Urne. Es war nicht leicht, die Bestattung davon zu überzeugen, einen Hund einzuäschern. Aber mit dem richtigen Kleingeld geht alles.« Sie lächelte vielsagend und rieb dabei Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Leider hat das ein großes Loch in meinem Portemonnaie zurückgelassen. Aber was tut man nicht alles, um die sterblichen Überreste seiner Lieben bei sich zu wissen.«
»Wo … wo bewahren Sie denn die …« Anton stotterte. Das Wort »Asche« im Zusammenhang mit einem Hund wollte ihm nicht über die Lippen kommen.
»Auf meinem Nachtkästchen«, sagte Fräulein Jürgens prompt. »So ist sie immer noch ein bisschen bei mir. Auch nachts, wenn ich schlafe.«
»Ah, ja.«
Fräulein Jürgens beugte sich erneut zu Minna. Kurz fürchtete Anton, ihre Oberweite würde aus ihrem engen Kleid hüpfen. Aber sie blieb sittsam dort, wo sie hingehörte.
»Kann es sein, dass Ihre Hundedame noch ausgeführt werden muss?«, fragte Fräulein Jürgens hoffnungsvoll.
Anton wollte verneinen. Die Vorstellung, mit einer Frau durch den Auwald zu spazieren, die neben der Asche ihres Hundes schlief, fand er befremdlich, um nicht zu sagen gruselig. Doch Minna machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Die Hundedame stellte sich auf die Hinterpfoten und kratzte mit den vorderen an der Gartentür.
»Ja, du Süße, du willst noch eine Runde Gassi gehen.«
Jetzt bellte Minna. Das Wort »Gassi« war ihr vertraut. Am liebsten hätte Anton laut mit ihr geschimpft.
»Ich kann Ihnen eine wunderschöne Abendrunde zeigen«, flötete Fräulein Jürgens gut gelaunt. »Es ist gar nicht so einfach, hier Wege zu finden, die ausreichend beleuchtet sind.«
»Hm.«
Minna bellte noch einmal. Sie wollte auf den Spaziergang nicht verzichten. Es gab kein Entkommen, würde Anton bleiben, würde sie weiterbellen.
»Also gut.« Er seufzte ergeben.
Während Anton Minnas Leine aus der Hütte holte, schwor er sich, der Hundedame in den nächsten Tagen keine Leckereien zu geben. Belohnungen musste man sich verdienen. Minna hatte sie eben für geraume Zeit verspielt.
NEUN
Anton erwachte als Erster. Er hatte auf dem ausgezogenen Sofa geschlafen und das kleine Zimmerchen Ernestine und Rosa überlassen, schließlich hatte er seiner Enkeltochter gegenüber eine moralische Verpflichtung. Was für ein Bild hätte es abgegeben, wenn er und Ernestine in einem Raum schliefen?
Erfreulicherweise war das Sofa durchaus bequem. Er reckte sich und trat auf die Terrasse. Warme Morgenluft wehte ihm entgegen. Auf der Donau fuhren zwei kleine Boote vorbei. Ein Graureiher segelte elegant übers Wasser. Es roch nach Auwald und Morgentau. Genüsslich streckte sich Anton. Höchste Zeit für eine Dusche. Er schnappte Handtuch und Seife, schlüpfte in seinen Morgenmantel und in die Badeschlapfen und kletterte über die Holztreppe in den Garten. Die Dusche befand sich hinter einer Holzwand seitlich vom Haus. Während ihm die aufgehende Sonne ins Gesicht schien, stellte er sich nackt unter den kalten Wasserstrahl. Am liebsten hätte er laut geschrien, doch sobald er sich an das prickelnde Gefühl auf der Haut gewöhnt hatte, genoss er die ungewohnte Freiheit, unter einem wolkenlosen Himmel zu duschen. Wo sonst konnte man im Garten seine Morgentoilette erledigen? Erfrischt und putzmunter trocknete er sich ab, zog den Morgenmantel an und stieg wieder über die