In der Hölle der Ostfront. Arno Sauer
des Moseltales in einem beheizten Zweite-Klasse-Waggon.
Es war bereits die dritte Kriegsweihnacht, und entsprechend mager fielen auch die Geschenke aus. Apfelsinen und andere Südfrüchte gab es schon lange nicht mehr, und Kaffee, Mehl, Zucker und auch Schuhe sowie vieles mehr bezog man bereits rationiert über Lebensmittelmarken. Es ging ruhig zu in unserem tief verschneiten Dorf. Das Leben im Ort schien still zu stehen. Arbeiten im Freien konnten wegen der extrem kalten Witterung und des starken Schneefalls nicht verrichtet werden. Private Autos gab es nicht mehr, und so fuhren auch keine über die Reichsstraße. Kleinere Kinder freuten sich auf das Schlittenfahren. Wir aber waren mit dem 17. Lebensjahr schlagartig keine Kinder mehr.
Wir hatten viel Zeit zum Nachdenken, und meine Gedanken schweiften oft in meine Kinder- und Jugendzeit ab.
Fünf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde ich als dritter Sohn der Bäuerin Antoinette Sauer (geborene Quirbach, 1883) und des Landwirts und Kartoffelhändlers Josef Sauer, am 22. Dezember 1923 in Bassenheim bei Koblenz im Rheinland geboren und in der katholischen Pfarrkirche St. Martin auf den Namen Friedrich Gottfried getauft.
Der Name Gottfried stammte von meinem Patenonkel, einem Bruder meiner Mutter. Seitdem ich zurückdenken kann, wurde der Name Friedrich eigentlich nie ausgesprochen, sondern ich war ausschließlich der Fritz, oder »dat Fritzje«, wie man hier im moselfränkischen Dialekt sagt.
Mein ältester Bruder Hans, richtig mein Halbbruder, war Jahrgang 1908 und lebte mit meiner Mutter zehn Jahre mehr schlecht als recht allein, einquartiert bei Mutters Bruder Onkel Johann, nachdem ein junger Mann aus dem vier Kilometer entfernten Saffig meine Mutter geschwängert und trotz Eheversprechen hatte sitzen lassen, um in die USA zu gehen.
Als mein Vater Josef Sauer (geb. 1880) nach vier Jahren Krieg an der Westfront 1918 mit drei Orden dekoriert, deren Bedeutung mir später leider nicht mehr bewusst war, unversehrt nach Hause kam, heiratete er alsbald meine Mutter und adoptierte den kleinen Hans. Er gab ihm nicht nur seinen Namen, sondern behandelte ihn stets wie seinen eigenen Sohn. Dabei wurde bereits sehr früh festgelegt, dass Hans als Erstgeborener, wie es im Rheinland, aber auch in den meisten Gegenden Deutschlands üblich war, später einmal unseren landwirtschaftlichen Betrieb weiterführen sollte.
Mein zweiter Bruder Peter wurde im November 1920 geboren, und im Mai 1925 brachte Mutter mit immerhin schon 42 Jahren meinen dritten Bruder Karl zur Welt. In unserem Dorf gab es viele Familien, die den gleichen Familiennamen führten wie wir, und sie alle bekamen bis auf wenige Ausnahmen nur männliche Nachkommen, so dass meine Eltern, die gern auch ein kleines Mädchen gehabt hätten, auch mit Blick auf das fortgeschrittene Alter meiner Mutter, beschlossen, keine weiteren Kinder in die Welt zu setzen. Dabei spielten natürlich auch wirtschaftliche Aspekte eine nicht unerhebliche Rolle. Nach dem verlorenen Krieg war es in den Jahren der Weimarer Republik, die geprägt waren von Inflation und Arbeitslosigkeit, vielen Menschen nicht möglich, eine große Familie auch nur ausreichend zu ernähren, geschweige denn, diese mit den Dingen auszustatten, die für eine normale Lebenshaltung erforderlich sind.
Bestanden die Familien nach der zweiten Reichsgründung 1871 im aufstrebenden Kaiserreich noch aus durchschnittlich sechs bis zwölf Kindern, sank dieser Wert nach dem Ersten Weltkrieg etwa auf die Hälfte, wobei der Geburtenrückgang zum Teil durch die geringere Kindersterblichkeit kompensiert wurde. Denn nicht nur die Medizin, sondern auch das Sozialsystem machten nach der Jahrhundertwende zum Teil revolutionäre Fortschritte. Vor allem besserten sich die hygienischen Verhältnisse, und damit sank auch die Zahl der Sterbefälle durch Infektionen drastisch.
Meine Eltern hatten beide je sieben Geschwister, was mir eine Riesenanzahl von Cousins und Cousinen bescherte, mit denen man natürlich schön spielen konnte. Eine besondere Ausnahme war hier wiederum Onkel Peter Paul, ein Bruder meines Vaters. Die Familie wohnte einige Häuser weiter ebenfalls in unserer Straße. Ihr zur gleichen Zeit und in identischer Größe gebautes Haus Nr. 12 beherbergte allerdings ein paar Seelen mehr. Hier gab es noch eine richtige Großfamilie mit elf Kindern, sechs Jungen und fünf Mädchen. So gab es in unserem Dorf neben Weihnachten, Fastnacht, Ostern und Kirmes auch zahlreiche kleinere Familienfeiern, die sich aber hinsichtlich des finanziellen und kulinarischen Aufwands in sehr bescheidenen Grenzen bewegten.
Überhaupt war in unserem Dorf dank der vielen Kinder auf den zumeist noch unbefestigten Straßen, in Gärten, Wiesen, Feldern oder in unserem schönen Wald immer etwas los. Und so zogen und stromerten wir, wenn Vater uns nicht gerade aufs Feld mitnahm, bereits vor unserer Einschulung in die Volksschule durch Dorf und Gemarkung, immer auf der Suche nach Entdeckungen, einer interessanten Abwechslung, nach Abenteuern oder auch nur nach irgendetwas Essbarem. Von Mai bis Oktober wussten wir stets, wo es die ersten Erdbeeren, Himbeeren und Kirschen bis hin zu den letzten Brombeeren, Pflaumen, Birnen, Nüssen und Äpfeln gab.
Unweit von unserem Haus in der Von-Oppenheim-Straße Nr. 1 befand sich die gut ausgebaute asphaltierte Reichsstraße. Diese führte von Koblenz kommend über Metternich, Rübenach, Bassenheim, Ochtendung, Mayen, vorbei am Nürburgring, der 1927 fertig gestellt wurde, weiter über Blankenheim, Schleiden, Monschau bis nach Aachen. Hier konnten wir natürlich ab und an durchfahrende Autos bestaunen, welche in späteren Jahren bei den großen Eifelrennen, insbesondere beim Großen Preis von Deutschland, vermehrt durch unseren Ort fuhren. Aber Automobile waren damals noch eher selten.
Die Reichsbahn war das gängige Transportmittel, und so wurde die Reichsstraße in der Regel mehr von Pferde- und Ochsengespannen, einigen LKWs und fahrenden Händlern, Kesselflickern und Korbflechtern, fahrendem Volk und sonstigen Gesellen benutzt. In dieser Zeit bewältigte man noch viele Reisen zu Fuß, und so wanderten unsere motorsportbegeisterten Dorfbewohner per pedes die 41 Kilometer zum Großen Preis auf dem Nürburgring, wo sich damals so namhafte Hersteller wie Autounion, Mercedes Benz, Alfa Romeo, Bugatti und Ferrari harte Kämpfe lieferten.
Ich kann mich auch noch sehr gut an ein Ereignis von ganz anderer Art erinnern. Mit gerade mal sechs Jahren, noch vor meiner Einschulung, entdeckte ich Zigeuner, die von Ochtendung her kommend durch unser Dorf zogen. Das war natürlich spannend. Diese Leute sahen anders aus, waren anders gekleidet, sprachen anders, hatten viele Kinder dabei und ein kleines zotteliges Pferd, wie wir es hier im Dorf in dieser Art noch nie gesehen hatten. Wahrscheinlich war es eine Art Pony, das ein kleines, rauchendes Häuschen auf zwei Rädern hinter sich her zog. Meine Neugierde war spontan geweckt, und Sekunden später saß ich schon in diesem Gefährt. Die Leute waren nett und lustig. Eine ältere Frau rauchte eine lange Pfeife und während des Spielens mit deren Kindern vergaß ich über einen längeren Zeitraum das Aussteigen. Zu Beginn unseres Dorfes eingestiegen, sah ich plötzlich, wie unser weit außerhalb vom Ortsrand auf der gegenüberliegenden, östlichen Seite gelegener Bahnhof an mir vorbeizog. Nun verließ mich schlagartig der Mut. Ich sprang schleunigst von dem gemächlich in Richtung Koblenz fahrenden, faszinierenden Gefährt ab. Noch im Weglaufen sah ich, dass die lustige Gesellschaft um ein paar Hühner und eine Gans gewachsen war. Die zwei Kilometer Fußmarsch zurück ins Dorf bis zu unserem Haus bewältigte ich locker und in kürzester Zeit. Zu Fuß gehen oder laufen war für uns kein Problem.
Mittlerweile hatte sich im Dorf herumgesprochen, dass das kleine »Fritzje« von den Zigeunern mitgenommen und verschleppt worden sei. Man suchte mich überall und machte sich große Sorgen. Dass ich aus Neugier selbst in den Wagen geklettert war, verschwieg ich angesichts der Schelte, die über mich hereinbrach, als ich nach Hause kam. Sogleich suchten die Eltern meine kurz geschorenen Haare nach Läusen ab, wurden aber zum Glück nicht fündig. Ich jedenfalls kam durch dieses Abenteuer bereits in sehr jungen Jahren zu meinem ersten größeren und noch dazu kostenlosen Ausflug.
Aufgrund der Tatsache, dass ich spät im Dezember 1923 geboren worden war, erfolgte meine Einschulung in die Volksschule Bassenheim erst Ostern 1930 zum Jahrgang 1923/24. Eingeschult wurde damals immer an Ostern, nicht wie heute nach den großen Sommerferien. Nach den Osterferien begann an gleicher Stelle das neue Schuljahr, sofern man nicht auf eine höhere Schule wechselte oder eine Berufsausbildung begann. Die Volksschule bestand damals aus acht Klassen, reichte also vom ersten bis zum achten Schuljahr. Wer zu leistungsschwach war und den Lernstoff nicht bewältigte, blieb sitzen und musste die Klasse einfach wiederholen.
Unsere Volksschule lag an der Saffiger Straße, unmittelbar oberhalb unseres schönen Schlossparkes.