Die Gentlemen-Gangster. Manfred Bomm
Sie lauschte angestrengt in die Stille, um herausfinden zu können, wo sie sich befand. In der Ferne waren Autogeräusche zu hören und seit dem Morgengrauen häufig auch Flugzeuge. Dies konnte darauf hindeuten, dass sie tatsächlich irgendwo ins Remstal verschleppt worden war, wo an- und abfliegende Flugzeuge des nahen Stuttgarter Flughafens erfahrungsgemäß sehr tief flogen.
Nachdem der Gangster immer häufiger auf seine Armbanduhr geschaut hatte, nervös und zunehmend unruhiger, erhob er sich schließlich und sagte: »Okay.« Als habe ihm jemand ein Zeichen gegeben. Doch da war niemand gewesen. Er verließ die Hütte und verriegelte sie von außen.
Marion verharrte noch für ein paar Sekunden, versuchte, von draußen ein Geräusch wahrzunehmen, aber alles blieb still. Kein Auto. Nichts. Vielleicht, so überlegte sie, hatte sich der Räuber mit einem Fahrrad davongemacht.
Jetzt wollte sie schnell handeln. Mit den gefesselten Händen schob sie die Decke beiseite, sodass auch das Handtuch auf den Boden fiel, und begann umständlich, das Klebeband zu lösen, das seit Stunden ihre Knöchel zusammenpresste. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich tatsächlich davon befreien konnte. Doch ihre Beine schmerzten, sodass sie sich nur mühsam erheben konnte, um zur Tür zu gehen. Die sich aber trotz heftigen Rüttelns nicht öffnen ließ.
Das Fenster. Natürlich. Es musste ein Leichtes sein, dort hinauszusteigen. Sie schob die Vorhänge beiseite und erkannte zufrieden, dass nicht nur eine fest eingebaute Glasscheibe zum Vorschein kam, sondern ein Fensterflügel, den man öffnen konnte.
Weil ihre Hände nicht auf den Rücken, sondern an der Körpervorderseite gefesselt waren, konnte sie mit ein paar Verrenkungen immerhin erfolgreich den Griff erreichen. Der morsche Fensterrahmen ließ sich nach innen schwenken, und die Öffnung ins Freie war groß genug, um die Hütte verlassen zu können – trotz der Handschellen, denn Marion war schlank und sportlich, vor allem aber jetzt motiviert genug, um ihrem Gefängnis auf diese Weise zu entkommen.
9
Der Uniformierte war vorsichtig aus der Tiefgarage herausgefahren, um, wie es die Fahrtrichtung vorschrieb, nach links abzubiegen, vorbei am Hauptpostamt. An der Fußgängerampel wartete ein halbes Dutzend Passanten, ohne zu ahnen, wer da gerade vorbeifuhr.
»Wo wollen Sie denn hin?«, wollte Lackner zum wiederholten Male zaghaft wissen und sah sich nach allen Seiten um.
»Nicht weit. Sie dürfen gleich raus«, brummte der Mann hinterm Steuer und fuhr langsam die Gartenstraße entlang, folgte dann aber nicht der abknickenden Vorfahrt nach links zur Schützenstraße, sondern behielt die Geradeausrichtung bei – in einen eher abgelegenen Bereich. Lackner beschlich wieder ein bitteres Unbehagen. Denn hier, abseits des belebten Zentrums, würde es keine Zeugen geben, falls die Verbrecher ihm etwas antun wollten. Ein Wechselbad der Gefühle überflutete ihn: Einerseits wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass dieser Albtraum nun ein Ende nahm, andererseits jedoch könnte sich beim Auftauchen eines Streifenwagens die Situation sofort verschärfen und außer Kontrolle geraten.
Tief von diesen Gedanken ergriffen, holte ihn die Stimme neben ihm in die Realität zurück: »Sie können jetzt aussteigen«, sagte der Uniformierte völlig unerwartet und stoppte den Wagen kurz vor der Einmündung Betzstraße. Lackner war sich der Tragweite des Gesagten in diesem Moment nicht bewusst. Aussteigen. Hatte der Gangster »aussteigen« gesagt? Er sah in die Sonnenbrille des Fahrers, zweifelte den Bruchteil einer Sekunde, ob das ernst gemeint war, griff dann aber schnell zum Türgriff und verließ wortlos den Mercedes.
Kaum war die Wagentür wieder ins Schloss gefallen, brauste der Wagen, links in die Betzstraße abbiegend, davon. Lackner fühlte sich wie benommen. Träumte er? Was war jetzt auf einmal geschehen? Er sah apathisch dem Auto nach, das zwei Querstraßen weiter dann rechts aus seinem Blickwinkel verschwand.
War jetzt alles ausgestanden? Lackner schloss die Augen, fühlte, wie eine tonnenschwere Last von ihm fiel, wusste aber nicht, ob er sich darüber schon freuen sollte. Dass er Opfer eines der größten Bankraube der deutschen Nachkriegsgeschichte gewesen war, hatte er noch lange nicht verinnerlicht. Er musste nur an seinen Chef und dessen Tochter denken. Erst wenn beide frei sein würden, war der Fall abgeschlossen. Oder doch nicht? Natürlich nicht. Jetzt würden die Kriminalisten unzählige Fragen stellen. Und ganz bestimmt auch der Landrat.
10
Seifritz hatte sich auch nach der Rückkehr Lackners strikt an die Anweisung der Kidnapper gehalten, nicht vor 10 Uhr Alarm zu schlagen. Sein Stellvertreter, den er gegen 9.30 Uhr in das Verbrechen einweihte, forderte die sofortige Einschaltung der Polizei. Seifritz wehrte aus Sorge um die Tochter zunächst ab und bekam spontane Schützenhilfe von Sekretärin Karin Rüger, die den stellvertretenden Sparkassendirektor beherzt am Arm packte und davon zurückhielt, die Polizei zu rufen.
Doch letztlich rangen sich die beiden Männer dazu durch, den örtlichen Leiter der Polizeidirektion, Josef Walser, zu einem Gespräch herzubitten. Möglichst ohne großes Aufsehen.
In dem verschachtelten Gebäudekomplex der Göppinger Polizeidirektion war gerade die montägliche Frühbesprechung zu Ende gegangen, als die Vorzimmerdame von Direktor Josef Walser ein Gespräch von der Kreissparkasse zu ihm weiterleitete. Er vernahm eine Frauenstimme, die ihn ohne lange zu zögern im Befehlston anwies: »Sie sollen um 10 Uhr kommen. Herr Seifritz und der Landrat warten auf Sie.« Die Anruferin wartete keine Nachfrage ab, sondern wiederholte mehrmals: »Um 10 Uhr. Aber keine Minute früher.«
Walsers Versuch, einen Grund für diese seltsame Aufforderung zu erfahren, blieb erfolglos. Die Anruferin beendete das Gespräch. Walser, ein groß gewachsener hagerer Mann, der seit 1973 die Polizei in Göppingen leitete, spürte, dass etwas nicht stimmte, wie er Augenblicke später seinen Kollegen Karl Geiger, den Leiter der Kriminalpolizei, wissen ließ. Für einen kurzen Moment war Walser zwar über den Befehlston aus der Kreissparkasse leicht verstimmt gewesen, wonach er keine Minute früher als 10 Uhr kommen dürfe. Dann aber überwog die Sorge, dort könne etwas im Gange sein, das sofortiges Handeln erforderte. Er sah auf die Uhr: kurz nach 9.30 Uhr.
Es erschien ihm angeraten, den Kripochef zu dem Termin mitzunehmen. Noch auf der knarrenden Holztreppe in den Hof hinunter begegneten sie dem Leiter der Schutzpolizei und dem jungen Oberkommissar Jürgen Holder, der erst vor vier Monaten zum Leiter der neu gegründeten Stelle des Sachbearbeiters für Öffentlichkeitsarbeit – kurz Ö genannt – bestimmt worden war. Walser stoppte die beiden, die zu einem Arbeitsessen mit dem Bürgermeister der Landgemeinde Gruibingen gehen wollten. Bei Schwäbischen Kutteln sollte die polizeiliche Vorgehensweise fürs Dorffest besprochen werden. Daraus wurde jetzt nichts. Walser erklärte kurz, dass sie sich möglicherweise auf einen größeren Einsatz vorbereiten müssten.
11
Dass sich im Nebengebäude zu diesem Zeitpunkt der Gerichts- und Polizeireporter der einzigen Tageszeitung vor Ort, der Neuen Württembergischen Zeitung, kurz NWZ, aufhielt, konnten Walser und Geiger nicht ahnen. Georg Sander, eines der jüngsten Mitglieder der Lokalredaktion, pflegte ein gutes Verhältnis zur Polizei und hatte an diesem trüben Märzmontag die Fahrt zum Verlagshaus für einen kurzen Besuch im Göppinger Polizeirevier unterbrochen. Jetzt, in den frühen 80er-Jahren, als es noch keine privaten Radio- und Fernsehstationen gab und in dieser Stadt mit ihren knapp 55.000 Einwohnern auch kein anderes täglich erscheinendes gedrucktes Medium, war Sander der Einzige, der hier über kriminelle Ereignisse berichtete.
Entsprechend bescheiden war auch der Andrang bei behördlichen Pressekonferenzen. Meist saß ein Journalist der Tageszeitung ganz allein einer ganzen Gruppe von Vertretern der Polizei gegenüber. Wenn die jährlichen Unfall- und Kriminalstatistiken vorgestellt wurden – endlose Zahlen und Prozente, beinahe heruntergebrochen bis ins letzte Kaff – versuchte Sander verzweifelt und meist vergeblich, dem trockenen Material etwas Spannendes abzugewinnen.
Es kam auch höchst selten vor, dass sich auswärtige Journalisten für etwas interessierten, was hier, zwischen Stuttgart und Ulm, geschah. Das mussten dann schon ganz große Dinge sein – sei es ein kommunalpolitischer Skandal oder ein Mord. Aber derlei Spektakuläres kam doch eher selten vor. Zum Leidwesen von Sander, dem Lokaljournalisten, der zwar kein