MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág. Группа авторов
Komponisten kommt sie in gewisser Weise zum Tragen). Doch lässt sich die These aufstellen, dass Kurtág wie kaum ein anderer namhafter Komponist seiner Generation gerade solche Ansprüche von Kammermusik in ganz eindringlicher und durchaus spezifischer Weise zum Kern seiner Ästhetik erhoben hat. Seine Ästhetik ist, anknüpfend an Beethoven und etliche andere Komponisten, auch von einer Art Verantwortung für die eigene Zeit durchdrungen, und in der Verknüpfung beider Seiten liegt ein Schlüssel zum Verständnis eines erheblichen Teils seines Schaffens. Diesem auf emphatische Kammermusik-Konstellationen zielenden Kern sind im Falle Kurtágs ähnlich wie bei dem neun Jahre jüngeren Helmut Lachenmann4 selbst die relativ wenigen größer besetzten Werke – bis hin zum einzigen Musiktheaterwerk – verpflichtet. Gibt es in ihnen doch immer wieder Dialoge zwischen kammermusikalischen oder gar intimen und von ihnen abweichenden, stärker »öffentlichen« Situationen bzw. Gesten.5 Dem Streichquartett-Erstling folgten später mehrere andere Werke für diese besonders anspruchsvolle, zu größter Konsistenz geradezu animierenden Besetzung. Und sie alle – wie auch andere Teile seines sonstigen Schaffens – sind weithin von dem schon für Beethoven prägenden Bewusstsein getragen, keiner großen repräsentativen Öffentlichkeit dienen zu müssen, sondern ein größeres Maß an Intensität und Eigenwilligkeit erzielen zu können. Dies prägt durch und durch ihren Grundhabitus.
Es liegt nahe, an diesem Punkte auch einen Seitenblick auf Beethovens Altersgenossen (und in mancher Hinsicht auch Geistesverwandten) Friedrich Hölderlin zu werfen, auf dessen Gedichte Kurtág später in seinen Kompositionen Friedrich Hölderlin: An … (Ein Fragment) (1988/89) sowie Hölderlin-Gesänge (1993–97) rekurrierte. Er partizipiert auch mit diesen Stücken an einer Traditionslinie innerhalb der Neuen Musik. Deren Kern besteht darin, das Denken und die Dichtung Hölderlins als Kristallisationspunkt einer Dialektik zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit aufzufassen.6 Die »innerliche« Seite zumindest einiger Werke ist als das zu charakterisieren, was sie wohl auch in Kurtágs 1. Streichquartett – und fortan in so vielen anderen Werken von ihm – ist: als Rückzug in einen geschützten, nicht von zu großen Verständlichkeits-Erwartungen limitierten Gestaltungs- bzw. Erfahrungsraum, als Ort der Reflexion unterschiedlichster Ausdrucks-, aber auch Aussage-Momente (die durchaus auch emphatische und sogar politische oder religiöse Momente umfassen können). Damit verbunden ist die Hoffnung, mit einem offenen Publikum rechnen zu können, das Musik nicht bloß konsumiert, sondern über sie spielend oder hörend zu reflektieren sucht (auch dies ist ein deutliches Anknüpfen an die seit der Beethoven- und Hölderlin-Zeit geläufigen Erwartungen an Kunst).
Kurtág war sich stets dessen bewusst, dass dies im Rahmen des Konzertbetriebs – und zwar diesseits und jenseits des Ost und West bis 1989 trennenden »Eisernen Vorhangs« – keineswegs selbstverständlich ist, sondern der nachdrücklichen Förderung bedarf, damit jene Kultur des Hörens nicht versandet oder verloren geht, auf die schon Beethoven oder Schumann mit ihren Werken und Überlegungen zielten (bei beiden war dies bekanntlich grundiert durch kritische Äußerungen zur Gefahr der puren Äußerlichkeit im Musikbetrieb). »In der letzten Zeit kann ich nur solche Musik anhören, die geistig geprägt ist, die geistige Anstrengung spüren lässt«, lautet ein charakteristischer Satz Ligetis, den Kurtág im Jahre 1993 in seiner Laudatio über den befreundeten Komponisten zitierte. Er ließ dabei erkennen, dass dieselbe Forderung nach »geistiger Anstrengung« auch sein eigenes Credo ist.7 Fast alle Aktivitäten Kurtágs, als Lehrender, beim Einstudieren seiner Werke, aber vor allem beim Komponieren, markieren einen hierauf beziehbaren nachdrücklichen Einsatz für eine emphatische Kultur des Hörens. Mit derselben Emphase, die als radikale Innerlichkeit charakterisiert werden kann, hängt zunächst sein Sinn für das Entfalten von kleinen, intimen Besetzungen zusammen, aber auch für den Versuch, das in ihnen Erprobte auf größere Kontexte wie Orchestermusik und Oper zu übertragen – wobei sich das Komponieren hier wie dort immer wieder bestimmter Bündnisse mit jener Art von Dichtung versichert, die einen besonderen Impuls zur Denk- und Hör-Genauigkeit in sich trägt.
Man mag zur Vertiefung dieses Gedankens ein anderes Streichquartett in die Überlegungen einbeziehen, zumal dessen Komponist mit Kurtág viele Jahre freundschaftlich verbunden war. Gemeint ist jenes recht oft gespielte Werk von Luigi Nono, das den unmittelbar auf Hölderlin verweisenden Titel Fragmente – Stille. An Diotima trägt und das 1980 entstand, also fast zeitgleich mit Kurtágs Chorkomposition Omaggio a Luigi Nono (der Nono im Jahre 1983 mit dem Vokalwerk Omaggio a György Kurtág antwortete). Nonos Kammermusikwerk, als »ungeschützte Selbstbefragung«8 charakterisierbar, ist auf Texte Hölderlins bezogen. Und seinen Gestus beschrieb der Komponist selbst im Rekurs auf den Dichter dadurch, dass dessen Klänge »auf ›die zarten Töne des innersten Lebens‹ (Hölderlin) hinstrebten«.9 Gerade diese Akzentuierung verbindet Nono mit der Einsicht, dass Innerlichkeit in manchen Fällen nicht als Flucht ins Private, sondern als Akt der Sensibilisierung durch Kunst und mithin sogar als eine Art Politikum gesehen werden kann.10 Es geht ihm um eine Wachheit, die weit über Kunstdinge hinauszureichen vermag. Besonders an diesem letzten Punkt scheint das Denken von Kurtág mit jenem von Nono in spezifischer Weise verbunden zu sein.
Doch eine vergleichbare Grundhaltung spürte Kurtág gewiss auch aus vielen anderen Kompositionen, denen er bereits während seines ausführlichen Aufenthalts Ende der 1950er Jahre in Frankreich und Deutschland begegnete. Ein besonders wichtiges Indiz zum Verständnis seiner damaligen ästhetischen Neuorientierung ist seine Begeisterung nach den Begegnungen mit Ligetis elektronischem Stück Artikulation sowie mit Stockhausens Orchesterwerk Gruppen, die er beide auf der Rückreise von Paris im Jahre 1958 in Köln erlebte. Auch diese Begegnungen waren für ihn wichtige Initialerlebnisse. »Es schien, als hätte sich alles, was ich in Paris erfahren habe über gespannte Konzentratformen, in Köln musikalisch realisiert. Und das wurde für mich maßgeblich«, äußerte er selbst hierzu. Und mit Blick auf Stockhausens Werk schwärmte er sogar: »Wenn Dostojewski gesagt hat, die ganze russische Literatur komme aus dem Mantel von Gogol, dann kommt die ganze Musik des 20. Jahrhunderts nach 1950 aus Stockhausens Gruppen.«11 Was beide Werke miteinander verbindet und ihre mit diesen Worten wohl gemeinten Potenziale ausmacht, ist ihr Vermögen, das zugleich zu vergegenwärtigen, zu verschleiern und zu befragen, was Ligeti »Fetzen, Floskeln, Splitter und Spuren aller Art«12 nannte und als Indizien einer »nicht-puristischen Musik« charakterisierte. Kurtág hat in seiner Ligeti-Laudatio gerade auf diese Charakterisierung Bezug genommen – und deren Relevanz fürs eigene Schaffen und dessen eigene »gespannte Konzentratformen« durchblicken lassen.13 Auch hat er bei dieser Gelegenheit akzentuiert, dass aus seiner Sicht gerade Artikulation sowie das Orchesterwerk Atmosphères die überzeugendsten Teile von Ligetis Schaffen bildeten. Man kann dies sogar als implizite Kritik an jener Tendenz zu größerer Deutlichkeit lesen, die einige von Ligetis späteren Werken kennzeichnet.14
Bei alledem lässt sich Kurtágs eigene Instrumentalmusik mit ihren eigenen »Spuren aller Art« als Inbegriff einer nicht-puristischen Musik bezeichnen. Dies ist auf unterschiedlichsten Ebenen erfahrbar, zu denen außer innermusikalischen Elementen auch Werktitel, Satzbezeichnungen, Spielanweisungen, Opus-Zahlen und ganz besonders Widmungen gehören. Allenthalben sind Kurtágs kompositorische Konzentrate durchzogen von intertextuellen Bezügen, aber auch von Assoziationen, Anspielungen und imaginären Momenten, die das Zusammenspiel von Klang und Semantik immer wieder neu schattieren und akzentuieren. Das Spiel mit unterschiedlichsten Zeichen und Botschaften stützt sich dabei mit besonderer Vorliebe auf nicht eindeutige, sondern verklausulierte Elemente – und was mit Blick auf seine Vokalkomposition Botschaften der verstorbenen R. W. Troussowa (1976–80)