MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág. Группа авторов
charakterisiert wurde, lässt sich gewiss auf etliche andere Werke übertragen.
Kurtág selbst hat bei der Reflexion zu seinem eigenen Umgang mit rätselhaften Zeichen sowohl auf Hölderlin als auch auf Paul Klee rekurriert16 – und ist wohl durch beide inspiriert oder zumindest ermutigt worden. Gerade mit seinem Klee-Bezug17 knüpfte er an einen Künstler an, der mit seinen theoretischen Überlegungen, aber auch mit seinen Werken wie kaum ein anderer für die musikalische Avantgarde nach 1950 prägend war: Boulez schrieb sogar ein kleines Buch über ihn, und auch für andere Komponisten war Klees Denken – und namentlich seine Art der Verschränkung von abstrakten und bildhaften Momenten – enorm wichtig.18
Speziell Stockhausens Orchesterwerk Gruppen, das mit dieser Grundidee Klees unschwer in Zusammenhang zu bringen ist, dürfte außer durch den Verzicht auf allzu viel Deutlichkeit für Kurtág auch noch in anderer Hinsicht inspirierend gewesen sein: In kühner Weise operiert es nicht nur unabhängig von klassischen Motivbildungen, sondern auch von linearen Verläufen. Von dieser auf völlig neuartige Weise ins Unbekannte spekulierenden Musik erscheint der Schritt nicht weit zu den fein disponierten Kompositionen Kurtágs. Diese sind oftmals bestimmt von monadisch abgeschlossen erscheinenden Einheiten. Doch die Reihung solcher Einheiten, bei der Form nichts Übergestülptes ist, zielt nicht im gewohnten Sinne auf Kohärenz.19 Für den Aspekt des Ausdrucks von ästhetischer Freiheit (im Sinne Schillers), undenkbar ohne ein Wechselverhältnis aus Offenheit und Geschlossenheit, dürfte das genannte Werk Stockhausens eine wichtige Ermutigung gewesen sein. Dies könnte auch für die Tatsache gelten, dass Gruppen sich im Raum entfaltet. Gerade diese Entfaltung folgt zwar einem von Stockhausen entwickelten Modell der Zeitgestaltung, das von der systematischen Erschließung von Bezügen zwischen Tonhöhen und »Zeitintervallen« ausgeht; aber sie weist zugleich deutlich über die auf Kohärenz zielenden Konzepte früherer Raummusik hinaus. Und gerade an diesen Verzicht auf klassische Kohärenz knüpfte Kurtág mehr als zwei Jahrzehnte später in seinen Orchesterwerken20 an (darauf wird noch zurückzukommen sein).
Trotz des großen Einflusses des Stockhausen-Erlebnisses sind gewiss auch große Differenzen zwischen beiden Komponisten festzustellen. Verzichtet doch die Musik Kurtágs auf eine vergleichbare Systematik bei Zeitgestaltungen – und entwickelt sich Form in ihr sogar diametral anders als bei Stockhausen. Vor allem wirkt sie dort, wo sie auf Traditionen anspielt, fokussierter sowie in gestischer und expressiver Hinsicht zugleich prononcierter und stärker auf klassisch-romantische Vorbilder bezogen. Die abstrakte Seite ist zwar unverzichtbar, aber weniger präsent. Bemerkenswert erscheint an diesem zuletzt genannten Punkte allerdings, dass Kurtág selbst noch Jahrzehnte nach der Uraufführung von Gruppen die zuweilen heruntergespielten Traditionsbezüge auch dieses Werkes unterstrich: Er betonte nicht etwa, wie dies namentlich Helmut Lachenmann oder Alfred Schnittke taten, die dissoziative Seite,21 sondern sprach von »den Alban-Berg-artigen Violinkadenzen darin und vom Abschnitt der dramatischen, sich wild aneinander stoßenden und streitenden Blechbläser«.22
Dass Kurtág selbst in seinem 1. Streichquartett ausdrücklich mit einem besonders charakteristischen Faktor der europäischen Tradition agiert, nämlich mit musikalischen Intervallen, steht im Lichte solcher Erkenntnisse keineswegs im Widerspruch zu seiner Offenheit gegenüber der Neuen Musik westeuropäischer Provenienz (zu der man nach dessen Emigration gemeinhin ja auch Ligeti zählte). Gehört doch bereits zur Avantgarde der 1950er Jahre, wenngleich getragen von bewusst reduzierter Expressivität, gerade die dialektische Verschränkung von konstruktivistischen mit traditionellen, affektgeladenen oder auratischen Elementen; auch für die eben genannten Werke gilt dies ja, und der Klee-Bezug ist gerade hierfür nicht unbedeutend.
Gewiss allerdings hat Kurtág sich in der Folgezeit mit größerer Beharrlichkeit und Variabilität auf die Gestaltungsmöglichkeiten, punktuell sogar auf die Sogwirkungen von Intervallen oder Tonleitern23 eingelassen als etliche andere Komponisten seiner Generation. Ein markantes Beispiel sind die in den Hölderlin-Gesängen zum Tragen kommenden überraschenden Oktav-Sprünge anlässlich der eine Ganzheit beschwörenden Zeile »Was hier wir sind / kann dort ein Gott ergänzen« (dies im Abschnitt »An Zimmern«). Hier ist eine deutliche Differenz gegenüber der Grundidee der seriellen Musik auszumachen – so etwa auch zu Nonos Referenzwerk Il canto sospeso, wo alle im Text aufscheinenden Hoffnungsschimmer durch die strenge Handhabung der seriellen Struktur vor zu viel Harmonisierung bewahrt werden.24 Andererseits haben auch zwei seiner schon genannten Impulsgeber, nämlich Stockhausen und Ligeti, seit den späten 1960er Jahren wieder die Wirkungskraft von Intervallen einkalkuliert (was vor allem für Letzteren gilt, etwa in Lontano oder Lux aeterna). Hinzu kommt, dass die meisten Werke Kurtágs tonale Wirkungen fein dosieren. Ein Kennzeichen seiner Musik blieb der beharrliche Verzicht auf jenes Auftrumpfen, das er im Kontext des sozialistischen Ungarn erlebt und an dem er punktuell auch partizipiert25 hatte.
Ein wesentlicher Faktor für Kurtágs Neubeginn Ende der 1950er Jahre, der als Aufbruch im höchst emphatischen Sinne bezeichnet werden kann, war bekanntlich außermusikalischer Art: Die Psychologin Marianne Stein, die er 1957 in Paris aufsuchte, regte ihn nicht nur dazu an, sich beim Komponieren mehr Zeit zu lassen und sich dem schieren Abarbeiten von institutionellen oder gar staatlichen Aufträgen möglichst zu entwinden, sondern vor allem zum Agieren in kleinen Formen. Miniaturen höchster Intensität und Expressivität wurden fortan zu seinem Erkennungsmerkmal – und blieben es, trotz einiger längerer Werke, bis heute. Kurtág schreibt hochkonzentrierte musikalische Momentaufnahmen, die trotz des mitunter fragmentarischen Charakters auch wild auffahrende und höchst energische Akzentuierungen enthalten können.
Die aphoristische Kürze vieler seiner Werke wird oft mit der Musik Weberns verglichen, mit der er sich seit 1956 auf Anregung von Ligeti tatsächlich intensiv beschäftigte. Was Kurtág mit Webern verbindet, ist nicht bloß die Ausdehnung mancher Werke oder Werkteile, sondern die Vorliebe für polyphone Konfigurationen sowie die Konzentration der Mittel, zudem das gleichermaßen sparsame wie feine Agieren mit Momenten von Expressivität. Letzteres schließt bei Kurtág auch theatrale, figurative Elemente und vor allem gestische Momente ein.
Zum Aspekt des Expressiven und den genannten energischen Akzentuierungen sei eine schöne Pointierung Helmut Lachenmanns zitiert: dessen Charakterisierung der Musik Weberns als »Mahler aus der Vogelperspektive, radikal auf knappste Signale reduziert«.26 An diese Worte mag man beim Hören gerade von Kurtágs Werken oft denken, zumal sich bei ihrem Erleben immer wieder Fragen nach Ausführlichkeit und Deutlichkeit stellen und das Miniaturhafte und Aphoristische durch Andeutungen oder Schatten bestimmter Erfahrungen grundiert erscheint – insbesondere durch Erfahrungen anderer Musik.
Um diese Grundzüge von Kurtágs Ästhetik adäquat zu fassen, sollte man über den Webern-Impuls deutlich hinausgreifen. Neben Stockhausen und Ligeti ist hier auch jener Komponist zu nennen, den Lachenmann mit guten Gründen im Zusammenhang mit Webern zu reflektieren suchte (und der seinerseits auch erhebliche Spuren im Komponieren der nachfolgenden Generationen hinterlassen hat), nämlich Gustav Mahler. Und dies gilt gerade für jene (Über-)Pointierungen von Expressivität, die markanter sind als die Webern’schen Klang-Signale. Charakteristisch für Kurtág sowie für die Tradition, in die er sich mit alledem einschreibt, ist an diesem Punkte nicht zuletzt das beharrliche Agieren mit Ambivalenzen und Brechungen. Die eruptiven oder geradezu eskalierenden Momente seiner Musik, also die expressionistischen Tendenzen, bleiben zwar manchmal unterschwellig oder werden von gegenläufigen Momenten relativiert oder sogar aus den Angeln gehoben. Doch bieten sie