Sorrowville. Henning Mützlitz

Sorrowville - Henning Mützlitz


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trottete zur Tür.

      Der Kaffeegeruch auf dem Flur half zumindest ein bisschen. Nachdem er sich in dem winzigen Bad, das immerhin über einen Anschluss mit fließendem Wasser verfügte, frisch gemacht hatte, war er endgültig im Diesseits angekommen.

      Mabel saß bereits an ihrem Schreibtisch, als er die Treppe ins Erdgeschoss seines Häuschens oberhalb der Klippen herunterkam. Neben ihrem Stuhl lag ihr Hund Trevor und schlief. Während die erste Etage mit Mühe und Not sein Schlafzimmer, das eher einer Kammer glich, und das Bad beherbergte, war es hier unten geräumiger. Neben dem Eingangsflur, der auch als Empfangszimmer diente, gab es drei weitere Räume. Nicht viel, um Wohnung und Arbeitsräume eines Privatermittlers unterzubringen, aber für Zack reichte es.

      Die Kaffeetasse stand am üblichen Platz auf der Anrichte neben der Küchentür, und Zack nahm den ersten Schluck des dampfenden Gebräus dankbar zu sich.

      »Guten Morgen, Mr. Zorn!«, sagte Mabel, blickte über ihre Lesebrille hinweg und deutete so etwas wie ein Lächeln an. Die Sekretärin wusste, dass man ihn vor dem ersten Schluck nicht ansprechen durfte, und in den sieben Jahren, die sie nun gemeinsam arbeiteten, hatte sich eine Routine zwischen ihnen entwickelt, die selten von der Norm abwich.

      Dazu gehörte auch, dass Zack sich zum Kaffee eine Zigarette anzündete. Barfuß, nur mit der frisch gebügelten Hose und einem Unterhemd angetan, lehnte er sich an den Türrahmen und hörte dem zu, was Mabel ihm zu erzählen hatte.

      »Zeit, mal wieder ein wenig zu arbeiten, Mr. Zorn, oder nicht? Es liegt eine Menge Papierkram an«, begann sie. »Sie haben die Berichte für Inspector Turner immer noch nicht unterzeichnet, er hat deswegen schon zweimal nachgefragt. Außerdem sollen Sie im Stadtarchiv vorbeikommen. Mrs. Stranger hat Ihnen die Sachen herausgesucht, nach denen Sie gefragt hatten. Ich fürchte außerdem, dass wir die Rechnung für die Reparatur Ihres Wagens nicht bezahlen können. Ehrlich gesagt können wir gerade überhaupt nichts bezahlen, da wir diesen Monat noch nichts eingenommen haben. Ich frage mich, wie Sie mir nächste Woche den Lohn auszahlen wollen, Mr. Zorn! Ich kann nicht schon wieder warten, das geht nun wirklich nicht, das verstehen Sie doch? Haben Sie die Beträge für die Carpenter-Sache angesetzt? Die würden Ihnen ein, zwei Monate Liquidität verschaffen – und dann könnten Sie auch das County Hospital bezahlen. Sie wissen schon, wegen der Schusswunden.«

      Zack wusste nur zu gut, was sie meinte. Er kratzte sich an der Schulter. Es war noch keine drei Monate her, dass er sich zwei Kugeln eingefangen hatte. Bis heute wusste er nicht genau, wer auf ihn geschossen und ihn fast getötet hätte, aber es war nicht schwer, die Killer des Marinelli-Clans hinter dem Attentat zu vermuten. Der Familie, die in Sorrowville mehr Macht besaß als Bürgermeister und Polizei zusammen, war er schon zu oft in die Quere gekommen.

      »War das alles?«, fragte er Mabel und schlürfte weiter am Kaffee. Wie meist war ihm die prekäre finanzielle Situation bewusst. Auch das Ignorieren seiner Verbindlichkeiten gehörte zum alltäglichen Pflichtprogramm, wenngleich sich der schlechte Umsatz des ausklingenden Jahres 1926 nicht mehr leugnen ließ.

      »Bei allem Respekt, ich bin der Ansicht, das reicht vollkommen, Mr. Zorn!«, erwiderte Mabel in strengem Ton, der ihn an seine Mutter erinnerte. Die grauhaarige Angestellte war nur knapp fünfzehn Jahre älter als er, doch in Einstellung und Habitus trennte sie weit mehr als eine halbe Generation. »Sie sollten das alles ein wenig ernster nehmen, sonst geraten Sie bald in richtige Schwierigkeiten, Mr. Zorn. Ewig geht das nicht so weiter, das verstehen Sie doch?«

      »Ich weiß, ich weiß«, murmelte Zack und löste sich vom Türrahmen. Es stand nichts Dringendes an, also musste er den Tag wohl oder übel mit den Papieren verbringen und liegengebliebene Dinge abarbeiten. Allein schon, damit er Mabel in der kommenden Woche auszahlen konnte und sich nicht allmorgendlich ihre Ermahnungen anhören musste.

      »Bringen Sie mir die dringendsten Sachen in mein Büro«, sagte er im Vorbeigehen. »Als erstes kümmere ich mich um die Carpenter-Geschichte, damit Sie auch künftig was zu beißen haben, meine Teuerste. Aber dafür brauche ich definitiv mehr Kaffee.«

      Zack öffnete die Tür zu seinem Büro, aus dem ihm abgestandene Luft und eine Mischung aus kaltem Rauch, Bourbon und vergilbtem Papier entgegenschlugen. Ein vertrauter Duft, ein Odem von Heimeligkeit und Sicherheit.

      Als er eintreten wollte, wurde die Haustür aufgestoßen.

      Während Mabel erschrak und zur Tür starrte, als rechne sie mit einem Raubüberfall, hielt Zack lediglich inne und zog betont lange an seiner Zigarette. Es gab nur eine Person, die außer Mabel so selbstverständlich bei ihm ein- und ausging.

      »Lissy. Guten Morgen!« Zack drehte sich nicht einmal um.

      »Keine Zeit für Höflichkeiten, Honey!«, kam es kurz angebunden von einer Frauenstimme zurück. »Zieh dir was an und komm mit. Auf dem Friedhof hat es einen Toten gegeben.«

      »Auf dem Friedhof? Ist das denn ungewöhnlich?«

      »Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen. Ich rede hier nicht von einer Trauerfeier im familiären Kreis, sondern von einem Mord.«

      »Einen Moment«, erwiderte Zack und winkte ab. Bevor er ein Mordopfer in Augenschein nahm, brauchte er vor allem eins.

      Mehr Kaffee. Mit einem Schuss Bourbon.

      Zack knöpfte sich erst im Wagen die letzten Knöpfe des Hemds zu, während er die Augen zu Schlitzen verengte, da ihm der Rauch der Zigarette, die im Mundwinkel hing, in die Augen stieg. Dass Lissy wie üblich fuhr wie eine Geistesgestörte, erschwerte die Sache zusätzlich.

      »Also, was liegt an?«, fragte er irgendwann mit einem Seitenblick.

      »Pass auf, das wird dir gefallen!«, antwortete sie, bevor sie ebenfalls an ihrer Zigarette zog. Wie immer war die Reporterin der Sorrowville Gazette perfekt geschminkt und frisiert. Ihre dunkelblonden Locken reichten ihr bis in den Nacken, das Gesicht war gepudert, und die streng gezeichneten Augenbrauen betonten grüne Augen, die auf die Straße gerichtet blieben, während sie sprach. »Ich war noch nicht wach, als Doyle mich angerufen hat. Sein Kontakt bei der Polizei hat ihm gesteckt, dass es einen Großeinsatz oben am Green Wood Cemetery gibt. Dort muss ein ziemliches Gemetzel stattgefunden haben. Stell dir vor, es hat den alten Bernie erwischt.« Das süffisante Grinsen, das den letzten Satz unterstrich, zeugte davon, dass Lissy keinerlei Bedauern ob dieser Tatsache empfand. Ihre dunkelrot geschminkten Lippen schlossen sich erneut um den Tabakstengel.

      »Ist es das, was mir gefallen soll?«

      »Vielleicht. Gibt wohl wenige, die ihm eine Träne nachweinen, aber ich glaube, es sind eher die ungeklärten Begleitumstände seines Ablebens, die dich interessieren dürften – und mich ebenfalls.«

      »Wie geheimnisvoll«, murmelte Zack und starrte durch das Fenster des Cadillacs hinunter auf die Stadt. Die Schlote der Fabriken im Hafenviertel qualmten bereits. Ihr schwarzer Rauch verdunkelte den Himmel noch mehr als die Novemberwolken, die über der Bucht hingen.

      »Viel weiß ich nicht, außer, dass man die kläglichen Überreste von ihm gefunden hat. Und ziemlich viel Blut.«

      »Ist womöglich dieser gemeingefährliche Hund durchgedreht und hat ihn zerfleischt? Das wäre nicht unbedingt ungewöhnlich.« Zack befasste sich zwar auch mit Ermittlungen in ›normalen‹ Kriminalfällen, wenn die Bezahlung stimmte, allerdings hatte er sich vor allem auf Verbrechen und Zwischenfälle spezialisiert, bei denen es in den Augen normaler Menschen ›nicht mit rechten Dingen zuging‹. Die Interpretationen dieser Ereignisse besaßen jedoch einen weiten Spielraum, weshalb Zack es genauso häufig mit wahnsinnigen Gewalttätern oder Mördern, den Umtrieben von Möchtegern-Okkultisten wie mit Todesfällen und Abscheulichkeiten zu tun hatte, die das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen bei weitem überstiegen.

      »Es hat sich nicht so angehört«, sagte Lissy, zog ein letztes Mal an der Zigarette und drückte sie im Aschenbecher in der Mittelkonsole aus. »Steckt wohl mehr dahinter. Vielleicht hofft Doyle aber auch nur, dass ich ihm eine packende Geschichte liefere, um die Gazette morgen damit aufzumachen. Wir hatten länger keinen spektakulären Todesfall mehr, der über eine Leiche hinausgeht, die von einer Tommy Gun zersiebt wurde. Ich hoffe doch sehr,


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