James Bond 16: Kernschmelze. John Gardner

James Bond 16: Kernschmelze - John  Gardner


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immer mal wieder vergnügte«. Die Tatsache, dass sie nur knapp zehn Kilometer von seinem Landhaus entfernt wohnte, hatte großen Einfluss auf Bonds Kaufentscheidung gehabt. An diesem Freitag hatte er einen ganzen Berg Papierkram in Rekordzeit erledigt und das Büro nicht einmal in der Mittagspause verlassen, damit er rechtzeitig das Londoner Verkehrschaos hinter sich lassen konnte, bevor der übliche freitägliche Feierabendverkehr begann.

      Die Landschaft zeigte sich von ihrer besten Seite. Der vielseitige Duft eines perfekten Sommers strömte ins Innere des Autos und brachte ein Gefühl der Behaglichkeit und Zufriedenheit mit sich – etwas, das Bond in letzter Zeit nur selten erlebte.

      James Bond war kein abergläubischer Mann, doch als er sich an diesem Abend dem Landhaus näherte, fiel ihm auf, dass sich dort mehr Elstern als gewöhnlich aufzuhalten schienen. Sie flogen tief, segelten und flatterten quer über die Straßen und Wege wie schwarz-weiße Würfel bei einem Glücksspiel. Bond dachte an das alte Sprichwort: »Eine steht für Trauer, zwei für Freude.« An diesem Abend segelten jede Menge einzelne Elstern um sein Auto herum.

      Als er das Landhaus erreichte, stellte Bond eine Flasche 55er Dom Perignon kalt und wusste, dass er entweder köstlich oder der teuerste Weinessig sein würde, den er je probiert hatte.

      Dann ging er in das zusätzliche Zimmer im Erdgeschoss, zog den einigermaßen konservativen Anzug aus und duschte erst mit kochend heißem und dann mit eiskaltem Wasser, das wie Nadeln auf seiner Haut prickelte. Nachdem er sich mit einem rauen Handtuch abgetrocknet hatte, trug Bond eine kleine Menge Parfum von Guerlain auf, bevor er eine leichte marineblaue Kammgarnhose und ein weißes Baumwollhemd anzog. Er schlüpfte in bequeme weiche Ledersandalen und befestigte gerade die alte und geschätzte goldene Rolex Oyster Perpetual an seinem Handgelenk, als das Telefon klingelte.

      Es war eher ein Schnurren als ein Klingeln. Das rote Telefon. Sein Herz wurde schwer. Sowohl hier im Landhaus als auch in seiner Londoner Wohnung in der King’s Road musste James Bond zwei Telefone haben: eins für den normalen Gebrauch, auch wenn es nicht registriert war, und ein zweites, einen roten Apparat – ein flaches, eckiges Gerät ohne Wählscheibe oder Ziffernblock. In seiner Branche galt es als »abhörsicher«. Dieses sichere, saubere, nicht zu verwanzende Telefon war direkt mit dem Gebäude im Regent’s Park verbunden, das als Hauptgeschäftsstelle von Transworld Export Ltd. bekannt war.

      Bevor er auch nur eine Hand nach dem Telefon ausgestreckt hatte, verspürte Bond einen ersten Anflug leichter Verärgerung. Der einzige Grund für einen Anruf aus dem Hauptquartier an einem Freitagabend war irgendeine Art Notfall, oder ein Bereitschaftszustand, den M extra für Bond geschaffen hatte. Bonds Verärgerung wurde vermutlich noch von der Tatsache verstärkt, dass in letzter Zeit viele Notfälle bedeutet hatten, tagelang in einem Kontroll- oder Kommunikationsraum herumzusitzen oder eine komplexe Besprechung durchzustehen, die mit der Anweisung endete, die geplante Mission abzubrechen. Die Zeiten hatten sich geändert, und Bond hielt nicht viel von den politischen Einschränkungen, die man dem Secret Service auferlegt hatte, dem er nun schon länger treue Dienste leistete, als er sich eingestehen wollte.

      Er nahm den Hörer des roten Telefons ab.

      »James?« Wie Bond erwartet hatte, erklang Bill Tanners Stimme am anderen Ende der Leitung.

      Bond brummte eine säuerliche Bestätigung.

      »M braucht Sie hier«, sagte Tanner tonlos.

      »Jetzt?«

      »Seine genauen Worte möchte ich am Telefon nicht wiederholen, aber er hat angedeutet, dass Sie sich so schnell wie möglich herbemühen sollen.«

      »An einem Freitagabend?«, hakte Bond nach. Seine Verärgerung wuchs schnell an, während er vor seinem inneren Augen sah, wie sein idyllisches Wochenende verschwand wie der Inhalt einer ausgezeichneten Flasche Wein, die man in den Ausguss schüttete.

      »Jetzt sofort«, betonte der Stabschef und legte auf.

      Als er die Abfahrt nach Guildford erreichte, erinnerte sich Bond an die Enttäuschung in der Stimme seiner Freundin, als er sie angerufen hatte, um ihr gemeinsames Wochenende abzusagen. Er schätzte, dass ihm das ein gewisser Trost sein sollte – nicht dass es in letzter Zeit viel gegeben hätte, das Bond Trost spendete. Es hatte sogar Augenblicke gegeben, in denen er ernsthaft über eine Kündigung nachgedacht hatte – oder wie es im Fachjargon hieß: »eine Privatisierung«. Fachjargon änderte sich. Früher wäre dieser Ausdruck gleichbedeutend mit Abtrünnigkeit gewesen, doch das war nun nicht mehr der Fall.

      »Die Welt und die Zeiten ändern sich, James«, hatte M vor ein paar Jahren zu ihm gesagt, als er ihm die Neuigkeit eröffnet hatte, dass sein gesonderter Doppelnullstatus – der bedeutete, dass er die Lizenz besaß, in Ausübung seiner Pflicht zu töten – abgeschafft werden würde. »Narren und Politiker haben keine Ahnung von unseren Anforderungen. Die werden schon bald dafür sorgen, dass wir nach der Stechuhr arbeiten müssen.«

      Dieses Gespräch hatte während der sogenannten Neuordnungssäuberung stattgefunden, die man beim Secret Service oft nur als »Operation gelungen, Patient tot«-Aktion bezeichnete, ähnlich wie das berühmte »Halloween-Massaker« bei der CIA, bei dem man zahllose treue Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdiensts buchstäblich über Nacht entlassen hatte. Ähnliche Aktionen waren in Großbritannien durchgeführt worden. Man hatte die finanziellen Mittel gestrichen und eine Vorgehensweise angeordnet, die eine großspurige Anordnung aus Whitehall als »eine realistischere Logik in Bezug auf den Geheim- und Sicherheitsdienst« bezeichnete.

      »Sie versuchen, uns die Zähne zu ziehen, James«, hatte M an diesem deprimierenden Tag weiter erklärt. Dann hatte M eines dieser seltenen Lächeln aufblitzen lassen, die seine tief liegenden grauen Augen stets zu erhellen schienen, und schnaubend bemerkt, dass sich Whitehall mit dem falschen Mann angelegt habe, solange er noch das Sagen habe. »Soweit es mich betrifft, 007, werden Sie 007 bleiben. Ich werde die volle Verantwortung für Sie übernehmen. Und Sie werden wie immer ausschließlich von mir Befehle und Aufträge entgegennehmen. Es gibt Momente, in denen dieses Land einen Friedensstifter braucht – eine Schlagwaffe –, und verdammt noch mal, den wird es auch haben. Die können uns mit ihrem Papierkram bombardieren und die Doppelnullabteilung abschaffen. Wir werden einfach den Namen ändern. Von nun an wird es die Spezialabteilung sein, und Sie sind ein Teil davon. Verstanden, 007?«

      »Natürlich, Sir.«

      Bond lächelte bei der Erinnerung daran. Trotz Ms brüsker und oft kompromissloser Art liebte Bond ihn wie einen Vater. Für 007 war M der Secret Service, und der Secret Service war Bonds Leben. Und was M vorschlug, war genau das, was die Russen mit seinen alten Feinden von SMERSCH – Smert Schpionam, Tod den Spionen – gemacht hatten. Er existierte noch, dieser dunkle Kern im Herzen des KGBs, und hatte eine ganze Reihe an Metamorphosen durchgemacht. Zuerst wurde daraus der OKR, dann die Dreizehnte Abteilung von Linie F und nun nannte sich die Organisation Abteilung Viktor. Doch ihre Arbeit und ihre grundlegenden Strukturen waren gleich geblieben – politischer Mord, Entführungen, Sabotage, Attentate und die schnelle Beseitigung feindlicher Agenten, entweder nach einem Verhör oder als Kriegshandlung auf dem geheimen Schlachtfeld.

      Bond hatte Ms Büro an jenem Tag in gehobener Stimmung verlassen. Doch in den paar Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er lediglich vier Missionen ausgeführt, in denen seine Doppelnullnummer eine Rolle gespielt hatte. Ein Teil seiner Arbeit bestand darin, Menschen zu töten. Er mochte diesen Aspekt nicht, aber da es seine Pflicht war, erfüllte er auch diese Aufgabe sehr gut. Dennoch empfand er definitiv kein Verlangen nach dieser Art von Arbeit. Bond vermisste das aktive Leben, die ständige Herausforderung eines neuen Problems, einer schwierigen Entscheidung im Dienst, das Gefühl, einen Zweck zu erfüllen und seinem Land zu dienen. Manchmal fragte er sich, ob er in den Bann jener Unpässlichkeit geraten war, die Großbritannien hin und wieder an der Kehle zu packen schien – politische und wirtschaftliche Lethargie, kombiniert mit einem kurzsichtigen Blick auf die Probleme der Welt.

      Bonds letzte vier Missionen waren schnelle, unproblematische verdeckte Operationen gewesen. Und auch wenn es falsch wäre, zu behaupten, dass sich James Bond nach der Gefahr sehnte, schien es seinem Leben momentan gelegentlich an einem richtigen Sinn zu mangeln.

      Er


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