1431. Sophie Reyer

1431 - Sophie Reyer


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auch das ist nicht schlimm!«, fügt die Großmutter hinzu und zieht sie zärtlich an sich. Johanna seufzt. Die Großmutter ist einfach gelassen. In ihr schläft die Zufriedenheit. Die Großmutter hilft ihr durch den Tag, der magisch ist, denn Johanna ist noch klein. So sind Johannas Tage getaktet. Hinterm Haus gibt es Zelte aus Stroh, die haben keine Türen. Sind Hütten ohne Eingang. Johanna spielt darin. Oder sie streift zum Fluss, starrt auf die Wasseroberfläche, fixiert die Schilfinsel am Ende des Sees, ohne sie wirklich zu sehen, oft stundenlang. Irgendwann änderte sich das Licht, Wolken ziehen vorbei. Das Schauen ist eine Vertrautheit. Im Licht können sogar Steine rosig aufblühen wie Blumen, denkt sie. So wächst Johanna heran.

      Wer bin ich, fragt sie sich manchmal. Alles verschwimmt dann vor ihren Augen, wird riesig. Es gibt keine Vertrautheiten mehr, zu schnell verändert sich alles, das Leben rast und sie ist unfähig, es anzuhalten. Wie ein Mantel scheint etwas über der Welt der Dinge zu liegen und sie weiß selbst nicht recht, wie sie damit umgehen soll. Eine Art Rinde. Auch sie selbst bildet eine Kruste aus, seit sie vom Tod gelernt hat, aber das gefällt ihr nicht. Zuflucht birgt der Seelenbaum, Zuflucht bergen allein die Falten der Großmutter. Diese Kerben, die Gebirgsschluchten sind. Wie faltig die Großmutter ist!

      »Immer wieder kommt ein Frühling«, sagt die Großmutter, und das macht Johanna hoffen. Und sie hat recht: Gott ist dann buttergelbes Sonnenlicht. Man kann gar nicht traurig sein, denkt Johanna, überall lauert das Glück. Nicht wahr. Pfirsichfarben die Wolken, ein Zittern am Himmel, ein Frieden.

      Frühling und alles so, dicht als sähe die Welt sich zum ersten Mal im Spiegel. Die Knospen an den Bäumen springen stets erneut auf! Wenn der Baum blüht, erinnerte er an rosarot gefärbte Wolken, findet Johanna. Der Puls hinter der Stirn ist dann wie ein Hammer, durchzuckt sie, scheint sie zu zersprengen vor Freude, während sie sich innerlich zurückbiegen muss. In allem spürt Johanna das Beginnen, schon als Kind. Und in ihm den Tod. Sie spürt auch, wie sie alt wird. Noch glänzen die Umrisse des Sees im frühen Licht. Es ist der See ihrer Kindheit. Aber dass das nicht so bleiben wird, weiß Johanna schon.

       2. Gott ist ein Lichtweber

      Am nächsten Morgen kommt er zu ihr in die Zelle. Das Mädchen blinzelt, kratzt sich am Kopf und blickt ihn aus schaumigen Augen an.

      »Wer bist du?«, fragt sie.

      Er lächelt.

       »Vielleicht ein Engel?«

      Johanna stößt ein Schnauben aus.

      »Eingeschleust hast du dich«, poltert sie und fixiert ihn mit kritischer Miene.

      Er muss lachen, er hat nichts anderes erwartet. Klug scheint diese kleine, rotzige Magd zu sein, oder? Dennoch, Loyseleur muss das Spiel beginnen. Er hat es dem Bischof versprochen.

      »Was macht dich so sicher?«, flüstert er und nähert sich der Magd mit einem Stück Brot.

      Sie hat die Augen eines hungrigen Tieres, ihr Leib erbebt kurz, doch sie scheint sich nicht für die Nahrung zu interessieren. Johanna spuckt aus. Er sieht in ihren Augen das Temperament eines Kriegers aufflackern, wenn auch nur kurz. Das ist kein Bauernmädchen, denkt er. Das ist keine gewöhnliche Frau.

      »Die Engländer müssen mich freilassen. Gegen Lösegeld!«, sagt Johanna indes und presst trotzig ihre Lippen aneinander. Er lacht.

       »Bist du einfältig!«

      Johanna winkt ab.

      »Es gibt Wunder«, wispert sie leise.

      Er beißt in das Brot und sieht sie an.

       »Und sonst, wie geht es dir hier?«

      »Ich rede mit Gott, das reicht mir!«, antwortet Johanna.

      So schnell gibt er nicht auf. Pferde hat er gezähmt. Er weiß, was es heißt, einen Willen zu brechen.

      »Und wenn ich von ihm käme?«, meint er lächelnd, während der an dem Stück Brot kaut.

      Er kann sehen, wie Johanna im Munde der Speichel zusammenläuft vor Hunger. Darauf hat er es angelegt. Er reicht ihr ein Stück, doch die Jungfrau zuckt nur zusammen, rückt ab. Ein Moment der Stille.

      »Keine Angst«, wispert Loyseleur bemüht sanft, spricht wie zu einem Tier, einer Wildkatze, die es zu beschwichtigen gilt. Johanna mustert ihn kritisch.

      »Die Wachen, sie kommen zu nahe, ich weiß es«, meint er da.

      Johanna nickt widerspenstig und nun ist sein Moment gekommen. Er beugt sich ein Stück weit nach vorn.

      »Ich aber – ich werde es nicht tun, versprochen!«, wispert er und kann mit einem Mal ihr Haar riechen, das ihr fettig und braun ins runde Gesicht hängt.

       »Du hasst es, wenn man dich anfasst, hab ich recht?«

      »Rein bin ich!«, braust Johanna auf und entfernt sich noch ein Stück weit von ihm, der immer noch kaut.

       »Ich aber«, sagt er, »kann dir helfen. Ich werde mit dem Bischof reden, damit man dich nicht zwingt, Frauenkleider anzuziehen.«

      Johanna faucht.

      »Du bist mir ein schöner Engel!«, meint sie und spuckt noch einmal aus.

       »Ich zieh sie ohnehin nicht an. Und ich brauch keine Engel. Die Engländer helfen mir bestimmt. Bald bin ich wieder frei!«

       Dann beißt sie sich auf die Lippen und zieht sie zusammen zu einem Strich. Vielleicht, um nicht der Versuchung zu erliegen, doch nach dem Brot zu greifen. Loyseleur lässt die Rinde für sie liegen, als er aufsteht. Das würde nicht einfach werden. Aber was hatte er erwartet?

      Eine haardünne weiße Linie liegt am Ende des Sees. Die beginnende Finsternis ist noch rötlich. Das macht die Sonne, weiß Johanna. Sie flieht über jede Grenze in tänzerischer Leichtigkeit und steht am Ende des Horizonts. Über die Oberfläche des Sees legt sich der Wind in tanzenden Wellen. Er ist ein rhythmisches Sich-Wiegen, Kommen und Schwinden, die Welt klingt, klinkt sich in das Atmende des Windes ein. Die Pflanzen haben Blumengesichter und abends brennt der Mohn. Die Blumen senken sich, die Sternenmuster verschwinden zu winzigen Strichen, wenn man den Blick zusammenkneift. Johanna liebt das flimmernde Weiß und dennoch wird ihr in einer Art Schmerz ihr Körper bewusst, wenn sie nach oben sieht – eine Last, die sie lieber loswerden würde. Ein Fast-Nicht-Knistern liegt in der Landschaft als letzter Tagesrest. Alles andere ist gut zwischen den Tannenzweigen. Und auch Johanna ist gut, als Kind. Weil sie nicht weiß, was es heißt, böse zu sein, sieht Johanna es auch in den anderen nicht.

      In der Kindheit ist trotz des Todes und der Schwere des Körpers am Abend alles bei sich und heil. Und manchmal streut die Großmutter Maiskörner für die Hühner aus und das ist auch gut. In der Sonne steht sie dann, die Strahlen der Sonne sind Aureolen, umspülen sie. Als leuchtende Fluten und gestillte Träume. Es ist gläsern: So, als müsste man aufpassen, dass man nichts Falsches sagt. Alles könnte zerbrechen, wie ein einziger Faden eine Stickerei auflösen kann, weiß Johanna. Die Stille der Großmutter ist schön und wehrlos an diesen Abenden. Sie ist ewig wie der Moment und am Vergehen wie der Tag, auf den sich die Nacht senkt, und beides zugleich. Die Schönheit des Leuchtabends scheint aus jedem einzelnen Korn als Halm hervorzusprießen. Die Hände fassen nach den Körnern, rinnen aus. Verschenken sich so an die Welt. Und nachts kann Johanna in einer Wolke aus ihrem eigenen Haar liegen. Dann scheint es, als wäre alles zu erlösen. So wie der Priester gesagt hat. Zu erlösen von dem Tod. Eingefügt in eine Welle aus Licht, das nicht außen ist, ist Johanna in diesen Tagen. Der Vorhang vor ihrem Schlafzimmerfenster weht wie Geisterflügel. Und Johanna freut sich, denn morgen darf sie wieder mit den Kindern spielen. Die Schönheit des Spiels kommt immer aus gläserner Tiefe. Manchmal aber, im Dunkeln, ist es sehr laut. Da umkreisen sie alle Gedanken. Johannas Angst lässt sie zusammenducken und zwischen ihr und der Welt liegt


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