Ungeduld des Herzens. Stefan Zweig
setzt.
Freilich, im gleichen Augenblick, da diese sonderbare Hemmung mich überfällt, weiß ich auch schon, daß solche Kasteiung dumm und zwecklos ist. Ich weiß, daß es keinen Sinn hat, sich einen Genuß zu versagen, weil er andern versagt ist, sich ein Glück zu verbieten, weil irgendein anderer unglücklich ist. Ich weiß, daß in jeder Sekunde, während wir lachen und einfältige Scherze reißen, irgendwo einer in seinem Bette röchelt und stirbt, daß hinter tausend Fenstern sich Elend duckt und Menschen hungern, daß es Krankenhäuser, Steinbrüche und Kohlenbergwerke gibt, daß in Fabriken, in Ämtern, in Zuchthäusern Unzählige in Frondienst gespannt sind zu jeder Stunde, und keinem leichter Wird in seiner Not, Wenn noch ein anderer sich sinnlos quält. Wollte man beginnen, darüber bin ich mir klar, das gleichzeitige Elend dieser Erde sich auszudenken, es würgte einem den Schlaf ab und erstickte einem jedes Lachen im Mund. Aber immer ist es ja nicht das erdachte, das imaginierte Leiden, das einen bestürzt und zernichtet; nur was die Seele mit mitfühlenden Augen leibhaftig gesehen, vermag sie wahrhaft zu erschüttern. So nah und wesenhaft wie in einer Vision hatte ich inmitten meiner leidenschaftlichen Beschwingtheit plötzlich das blasse, verzerrte Gesicht zu erblicken vermeint, wie sie auf ihren Krücken sich durch den Saal schleppte, und gleichzeitig das Tocken und Tappen gehört und das Klirren und Quietschen der verborgenen Maschinen an den kranken Gelenken; gleichsam im Schreck, ohne zu denken, ohne zu überlegen, hatte ich die Zügel angerissen. Es hilft nichts, daß ich mir jetzt nachträglich sage: wem nützt du damit, daß du dummen schweren Trab reitest statt des mitreißenden, aufreizenden Galopps? Aber doch, der Stoß hat irgendeine Stelle meines Herzens getroffen, die nahe dem Gewissen liegt; ich habe nicht den Mut mehr, kraftvoll, frei und gesund die Lust meines Körpers zu genießen. Langsam, schläfrig trotten wir hin bis zur Lisière, die zum Exerzierfeld führt; erst wie wir völlig außer Blickweite des Schlosses sind, rüttle ich mich auf und sage mir: »Unsinn! Laß diese dummen Sentimentalitäten!« Und kommandiere: »Vorwärts! Gaa-lopp!«
Mit diesem einen plötzlichen Zügelriß begann es. Er war gleichsam das erste Symptom jener sonderbaren Vergiftung durch Mitgefühl. Zunächst spürte ich nur dumpf – etwa wie man bei einer Krankheit mit benommenem Kopfe aufwacht –, daß etwas mit mir geschehen war oder geschah. Bisher hatte ich in meinem engumzirkten Lebenskreis achtlos dahingelebt. Ich hatte mich einzig um das gekümmert, was meinen Kameraden, was meinen Vorgesetzten wichtig oder amüsant erschien, niemals aber hatte ich an etwas persönlich Anteil genommen oder jemand an mir. Nie hatte mich etwas eigentlich erschüttert. Meine Familienverhältnisse waren geregelt, mein Beruf, meine Karriere abgegrenzt und reglementiert, und diese Unbekümmertheit hatte – ich begriff es erst jetzt – mein Herz gedankenlos gemacht. Nun plötzlich war etwas an mir, mit mir geschehen – nichts äußerlich Sichtbares, nichts dem Anschein nach Wesentliches. Aber doch, dieser eine zornige Blick, da ich in den Augen der Gekränkten eine bisher ungeahnte Tiefe menschlichen Leidens erkannt, hatte etwas in mir aufgesprengt, und nun strömte von innen eine jähe Wärme durch mich hin, jenes geheimnisvolle Fieber erregend, das mir selbst unerklärlich blieb wie immer dem Kranken seine Krankheit. Ich begriff davon zunächst nicht mehr, als daß ich den gesicherten Kreis, innerhalb dessen ich bisher unbefangen dahingelebt, nun überschritten hatte und eine neue Zone betreten, die wie jedes Neue erregend und beunruhigend zugleich war; zum erstenmal sah ich einen Abgrund des Gefühls aufgerissen, den auszumessen und in den sich hinabzustürzen mir auf unerklärliche Weise verlockend schien. Aber gleichzeitig warnte mich ein Instinkt, solch verwegener Neugier nachzugeben. Er mahnte: »Genug! Du hast dich entschuldigt. Du hast die dumme Sache ins reine gebracht.« Aber »Geh nochmals hin!« raunte eine andere Stimme in mir. »Fühle noch einmal diesen Schauer über den Rücken hinwehen, dieses Rieseln von Angst und Spannung!« Und: »Laß ab«, warnte es wieder. »Dräng dich nicht auf, dräng dich nicht ein! Du wirst, simpler junger Mensch, der du bist, diesem Übermaß nicht gewachsen sein und noch ärgere Albernheiten begehen als das erste Mal.«
Überraschenderweise wurde diese Entscheidung mir selber abgenommen, denn drei Tage später lag ein Brief von Kekesfalva auf meinem Tisch, ob ich nicht sonntags bei ihnen dinieren möchte. Es kämen diesmal nur Herren, darunter jener Oberstleutnant von F. aus dem Kriegsministerium, von dem er mir gesprochen hätte, und selbstverständlich würden sich auch seine Tochter und Ilona besonders freuen. Ich schäme mich nicht, einzugestehen, daß diese Einladung mich eher schüchternen jungen Menschen sehr stolz machte. Man hatte mich also doch nicht vergessen, und die eine Bemerkung, daß Oberstleutnant von F. käme, schien sogar anzudeuten, daß Kekesfalva (ich verstand sofort, aus welchem Gefühl der Dankbarkeit). mir auf diskrete Art eine dienstliche Protektion verschaffen wollte.
Und wirklich, ich hatte es nicht zu bereuen, daß ich sofort zusagte. Es wurde ein richtiger gemütlicher Abend, und ich subalterner Offizier, um den sich beim Regiment niemand recht kümmerte, hatte das Gefühl, einer besonderen, völlig ungewohnten Herzlichkeit bei diesen älteren und soignierten Herren zu begegnen – offenbar hatte Kekesfalva sie auf eine besondere Weise auf mich aufmerksam gemacht. Zum erstenmal in meinem Leben behandelte mich ein höherer Vorgesetzter ohne jede rangliche Überlegenheit. Er erkundigte sich, ob ich zufrieden wäre bei meinem Regiment und wie es mit meinem Avancement stünde. Er ermutigte mich, wenn ich nach Wien käme oder sonst einmal etwas benötigte, bei ihm vorzusprechen. Der Notar wiederum, ein glatzköpfiger, munterer Mann mit einem gutmütig glänzenden Mondgesicht, lud mich in sein Haus, der Direktor der Zuckerfabrik richtete immer wieder das Wort an mich – welch eine andere Art Konversation als in unserer Offiziersmesse, wo ich jeder Meinung eines Vorgesetzten mit einem »gehorsamst« beipflichten mußte! Rascher als ich dachte, kam eine gute Sicherheit über mich, und schon nach einer halben Stunde sprach ich vollkommen ungehemmt mit.
Abermals tischten die beiden Diener Dinge auf, die ich bisher nur vom Hörensagen und vom Prahlen begüterter Kameraden kannte; Kaviar, köstlichen, eisgekühlten, ich schmeckte ihn zum erstenmal, Rehpastete und Fasanen, und dazu immer wieder diese Weine, die wohlig die Sinne beschwingten. Ich weiß, daß es dumm ist, von solchen Dingen sich imponieren zu lassen. Aber warum es leugnen? Ich kleiner, junger, unverwöhnter Leutnant genoß es mit geradezu kindischer Eitelkeit, mit so angesehenen älteren Herren derart schlaraffisch zu tafeln. Donnerwetter, dachte ich immer wieder, Donnerwetter, das sollte der Wawruschka sehen und der käsige Freiwillige, der uns immer anprotzt, wie üppig sie in Wien beim Sacher diniert haben! In ein solches Haus sollten sie einmal kommen, da würden sie Mund und Augen aufreißen! Ja, wenn sie zuschauen dürften, diese Neidhammel, wie ich da munter sitze und der Oberstleutnant aus dem Kriegsministerium mir zutrinkt, wie ich mit dem Direktor der Zuckerfabrik freundschaftlich diskutiere und er dann ganz ernsthaft äußert: »Ich bin überrascht, wie Sie mit all dem vertraut sind.«
Der schwarze Kaffee wird im Boudoir serviert, Kognak marschiert auf in großen, bauchigen, eisgekühlten Gläsern und dazu wiederum jenes Kaleidoskop von Schnäpsen, selbstverständlich auch die famosen dicken Zigarren mit den pompösen Bauchbinden. Mitten im Gespräch beugt sich Kekesfalva zu mir heran, um diskret anzufragen, was mir lieber sei: ob ich mitspielen wolle bei der Kartenpartie oder vorzöge, mit den Damen zu plaudern. Natürlich das letztere, erkläre ich schleunigst, denn mir wäre es doch nicht ganz behaglich, mit einem Oberstleutnant aus dem Kriegsministerium einen Rubber zu riskieren. Gewinnt man, so kann man ihn vielleicht verärgern, verliere ich, ist mein Monatsbudget geschmissen. Und dann, erinnere ich mich, habe ich im ganzen höchstens zwanzig Kronen in der Brieftasche.
So setze ich mich, während nebenan der Spieltisch aufgeschlagen wird, zu den beiden Mädchen, und sonderbar – ist es der Wein oder die gute Laune, die mir alles verklärt? – sie scheinen mir heute beide besonders hübsch. Edith sieht nicht so blaß, so gelblich, so kränklich aus wie das letztemal – mag sein, daß sie den Gästen zu Ehren etwas Rot aufgelegt hat, oder es ist wirklich nur die animierte Stimmung, die ihr die Wangen färbt; jedenfalls, es fehlt die gespannte, nervös flattrige Falte um ihren Mund und das eigenwillige Zucken der Brauen. In einem langen rosa Kleid sitzt sie da, kein Pelz, keine Decke verbirgt ihr Gebrest, und doch denke ich, denken wir alle in unserer guten Laune nicht »daran«. Bei Ilona hege ich sogar den leisen Verdacht, daß sie sich einen leichten Schwips angetrunken hat, ihre Augen knallen nur so, und wenn sie lachend ihre schönen, vollen Schultern zurückwirft, muß ich wirklich abrücken, um der Versuchung zu widerstehen, ihre bloßen Arme durch halben Zufall anzustreifen!
Mit