Ungeduld des Herzens. Stefan Zweig
spielen? Ich fürchte mich ja nicht, die Wahrheit zu sagen. Also, damit Sie es wissen – nein, nicht durch Zufall hat Sie unser Chauffeur im Kaffeehaus gesehen. Sondern ich hab ihn eigens hineingeschickt, um nachzufragen, was mit Ihnen los ist. Ich dachte, Sie seien am Ende krank oder es sei Ihnen was zugestoßen, weil Sie nicht einmal telephoniert haben, und . . . nun, bilden Sie sich meinetwegen ein, daß ich nervös bin . . . ich vertrag es eben nicht, daß man mich warten läßt . . . ich vertrag’s einfach nicht . . . so hab ich den Chauffeur hineingeschickt. Aber in der Kaserne hat er gehört, Herr Leutnant tarockierten wohlbehalten im Kaffeehaus, und da hab ich dann noch Ilona gebeten, sich zu erkundigen, warum Sie uns derart brüskieren . . . ob ich Sie vielleicht vorgestern mit etwas beleidigt habe . . . ich bin ja manchmal wirklich unverantwortlich in meiner blöden Hemmungslosigkeit . . . So – damit Sie’s sehen – ich schäme mich nicht, Ihnen das alles einzugestehen . . . Und Sie kramen solche einfältigen Ausreden aus – spüren Sie nicht selbst, wie schäbig das ist, unter Freunden so miserabel zu lügen?«
Ich wollte antworten – ich glaube, ich hatte sogar den Mut, ihr die ganze dumme Geschichte von Ferencz und Jozsi zu erzählen. Aber ungestüm befiehlt sie:
»Keine neuen Erfindungen jetzt . . . nur keine neuen Unwahrheiten, ich ertrag keine mehr! Mit Lügen bin ich überfüttert bis zum Erbrechen. Von früh bis abends löffelt man sie mir ein: ,Wie gut du heute aussiehst, wie famos du heute marschierst . . . großartig, es geht schon viel, viel besser῾ – immer dieselben Beruhigungspillen von früh bis abends, und keiner merkt, daß ich daran ersticke. Warum sagen Sie nicht kerzengrad: Ich habe gestern keine Zeit, keine Lust gehabt. Wir haben doch kein Abonnement auf Sie und nichts hätt mich mehr gefreut, als wenn Sie mir durch’s Telephon hätten sagen lassen: ,Ich komm heut nicht hinaus, wir bummeln lieber in der Stadt lustig herum.῾ Halten Sie mich für so albern, daß ich’s nicht verstehen sollte, wie Ihnen das manchmal über sein muß, hier tagtäglich den barmherzigen Samariter zu spielen, und daß ein erwachsener Mann lieber herumreitet oder seine gesunden Beine spazierenführt, statt an einem fremden Lehnstuhl herumzuhocken? Nur eins ist mir widerlich und eins ertrag ich nicht: Ausreden und Schwindel und Lügereien – damit bin ich eingedeckt bis an den Hals. Ich bin nicht so dumm, wie ihr alle meint, und kann schon einen guten Brokken Aufrichtigkeit vertragen. Sehen Sie, vor ein paar Tagen kriegten wir eine neue böhmische Aufwaschfrau ins Haus, die alte war gestorben, und am ersten Tag – sie hatte noch mit niemandem gesprochen – merkt sie, wie man mir mit meinen Krücken hinüberhilft in den Fauteuil. Im Schreck läßt sie die Schrubbürste fallen und schreit laut: ,Jeschusch, so ein Unglück, so ein Unglück! Ein so reiches, so vornehmes Fräulein . . . und ein Krüppel!῾ Wie eine Wilde ist Ilona auf die ehrliche Person losgefahren; gleich wollten sie die Arme entlassen und wegjagen. Aber mich, mich hat das gefreut, mir hat ihr Schrecken wohlgetan, weil es eben ehrlich, weil es menschlich ist, zu erschrecken, wenn man unvorbereitet so was sieht. Ich hab ihr auch sofort zehn Kronen geschenkt, und gleich ist sie in die Kirche gelaufen, um für mich zu beten . . . Den ganzen Tag hat’s mich noch gefreut, ja, faktisch gefreut, endlich einmal zu wissen, was ein fremder Mensch wirklich empfindet, wenn er mich zum erstenmal sieht . . . Aber ihr, ihr meint immer, mit eurer falschen Feinheit mich , schonen῾ zu müssen, und bildet euch ein, daß ihr mir am End’ noch wohltut mit eurer verfluchten Rücksicht . . . Aber meint ihr, ich hab keine Augen im Kopf? Meint ihr, ich spür nicht hinter eurem Geschwätz und Gestammel das gleiche Grausen und Unbehagen heraus wie bei jener braven, jener einzig ehrlichen Person? Glaubt ihr, ich merk’s nicht, wie es euch mitten in den Atem fährt, wenn ich die Krücken anfaß, und wie ihr hastig Konversation forciert, nur daß ich nichts merke – als ob ich euch nicht durch und durch kennte mit eurem Baldrian und Zucker, Zucker und Baldrian, diesem ganzen ekelhaften Geschleim . . . Oh, ich weiß haargenau, daß ihr jedesmal aufatmet, wenn ihr die Tür wieder hinter euch habt und mich liegen laßt wie einen Kadaver . . . genau weiß ich’s, wie ihr dann augenverdreherisch seufzt , Das arme Kind’, und gleichzeitig doch höchst, zufrieden seid mit euch selbst, daß ihr so schonungsvoll eine Stunde, zwei Stunden dem , armen, kranken Kind’ geopfert habt. Aber ich will keine Opfer! Ich will nicht, daß ihr euch verpflichtet glaubt, mir die tägliche Portion Mitleid zu servieren – ich pfeif auf allergnädigstes Mitgefühl – ein für allemal – ich verzichte auf Mitleid! Wenn Sie kommen wollen, dann kommen Sie, und wenn Sie nicht wollen, dann eben nicht! Aber ehrlich dann und keine Geschichten von Remonten und Pferdeausprpberei! Ich kann . . . ich kann die Lügerei und euer ekelhaftes Geschone nicht mehr ertragen!«
Ganz unbeherrscht hat sie die letzten Worte herausgestoßen, brennend die Augen, fahl das Gesicht. Dann löst sich mit einemmal der Krampf. Wie erschöpft fällt der Kopf an die Lehne, und erst allmählich füllt wieder Blut die von der Erregung noch zitternden Lippen.
»So«, atmet sie ganz leise und wie beschämt. »Das mußte einmal gesagt sein! Und jetzt erledigt! Reden wir nicht weiter davon. Geben Sie mir . . . geben Sie mir eine Zigarette.«
Nun geschieht mir etwas Sonderbares. Ich bin doch sonst leidlich beherrscht und habe feste, sichere Hände. Aber dieser unvermutete Ausbruch hat mich derart erschüttert, daß ich alle Glieder wie gelähmt fühle; nie hat mich irgend etwas in meinem Leben so bestürzt gemacht. Mühsam hole ich eine Zigarette aus der Dose, reiche sie hinüber und zünde ein Streichholz an. Aber beim Hinüberreichen zittern mir die Finger dermaßen, daß ich das brennende Zündhölzchen nicht gerade zu halten vermag und die Flamme im Leeren zuckt und verlischt. Ich muß ein zweites Streichholz anzünden; auch dieses schwankt unsicher in meiner zitternden Hand, ehe es ihre Zigarette entflammt. Sie aber muß unverkennbar an der augenfälligen Ungeschicklichkeit meine Erschütterung wahrgenommen haben, denn es ist eine ganz andere, eine staunend beunruhigte Stimme, mit der sie mich leise fragt:
»Aber was haben Sie denn? Sie zittern ja . . . Was . . . was erregt Sie denn so? . . . Was geht Sie denn das alles an?«
Die kleine Flamme des Streichhölzchens ist erloschen. Ich habe mich stumm gesetzt, und sie murmelt ganz betroffen: »Wie können Sie sich denn so aufregen über mein dummes Geschwätz? . . . Papa hat recht: Sie sind wirklich ein . . . ein sehr merkwürdiger Mensch.«
In diesem Augenblick flirrt hinter uns ein leises Surren. Es ist der Lift, der zu unserer Terrasse herauffährt. Johann öffnet den Verschlag, und heraus tritt Kekesfalva mit jener schuldbewußten, scheuen Art, die ihm unsinnigerweise immer die Schultern niederdrückt, sobald er sich der Kranken nähert.
Ich stehe schleunigst auf, um den Eintretenden zu begrüßen. Er nickt befangen und beugt sich gleich über Edith, um ihr die Stirne zu küssen. Dann entsteht ein merkwürdiges Schweigen. Alle spüren ja alles von allen in diesem Haus; zweifellos muß der alte Mann gefühlt haben, daß eben eine gefährliche Spannung zwischen uns beiden schwingt; so steht er mit gesenkten Augen beunruhigt herum. Am liebsten, ich merke es, flüchtete er gleich wieder zurück. Edith versucht zu helfen.
»Denk dir, Papa, der Herr Leutnant hat heute zum erstenmal die Terrasse gesehen.«
Und »Ja, wunderschön ist es hier«, sage ich, sofort peinlich bewußt werdend, daß ich etwas beschämend Banales ausspreche, und stocke schon wieder. Um die Befangenheit zu lösen, beugt sich Kekesfalva über den Fauteuil.
»Ich fürchte, es wird hier bald zu kühl für dich. Wollen wir nicht lieber hinunter?«
»Ja«, antwortet Edith. Wir sind alle froh, dadurch ein paar ablenkende nichtige Beschäftigungen zu finden; die Bücher zusammenzupacken, ihr den Shawl umzulegen, mit der Glocke zu schellen, deren eine hier wie auf jedem Tisch dieses Hauses bereitliegt. Nach zwei Minuten surrt der Fahrstuhl hoch und Josef rollt den Fauteuil mit der Gelähmten behutsam hin bis zum Schacht.
»Wir kommen gleich hinunter«, winkt ihr Kekesfalva zärtlich nach, »vielleicht machst du dich zum Abendessen zurecht. Ich kann unterdes mit dem Herrn Leutnant noch ein bißchen im Garten spazierengehen.«
Der Diener schließt die Tür des Lifts; wie in eine Gruft sinkt der Rollstuhl mit der Gelähmten in die Tiefe. Unwillkürlich haben der alte Mann und ich uns abgewendet. Wir schweigen beide, aber mit einem Mal spüre ich, daß er sich mir ganz zaghaft nähert.
»Wenn es Ihnen recht ist, Herr Leutnant, möchte ich gerne etwas mit Ihnen besprechen . . . das heißt, Sie um etwas