Ungeduld des Herzens. Stefan Zweig
spazierengehen.«
»Aber es ist mir doch nur eine Ehre, Herr von Kekesfalva«, antworte ich. In diesem Augenblick surrt der Lift zurück, um uns abzuholen. Wir fahren hinab, schreiten quer über den Hof zum Verwaltungsgebäude; mir fällt auf, wie vorsichtig, wie sehr an die Wand gedrückt Kekesfalva am Haus entlangschleicht, wie schmal er sich macht, als fürchte er, ertappt zu werden. Unwillkürlich – ich kann ja nicht anders – gehe ich mit ebenso leisen, vorsichtigen Schritten hinter ihm her.
Am Ende des niederen und nicht sehr sauber gekalkten Verwaltungsgebäudes öffnet er eine Tür; sie führt in sein Kontor, das sich als nicht viel besser eingerichtet erweist als mein eigenes Kasernenzimmer: ein billiger Schreibtisch, morsch und verbraucht, alte verfleckte Strohsessel, an der Wand ein paar alte, offenbar seit Jahren unbenutzte Tabellen über der zerschlissenen Tapete. Auch der muffige Geruch erinnert mich mißlich an unsere eigenen ärarischen Büros. Schon mit dem ersten Blick – wieviel habe ich verstehen gelernt in diesen wenigen Tagen! – erkenne ich, daß dieser alte Mann allen Luxus, alle Bequemlichkeit einzig auf sein Kind häuft und für sich selber spart wie ein knickriger Bauer; zum erstenmal habe ich auch, da er mir vorausging, bemerkt, wie abgestoßen sein schwarzer Rock an den Ellbogen glänzt; wahrscheinlich trägt er ihn schon seit zehn oder fünfzehn Jahren.
Kekesfalva schiebt mir den breiten, schwarzledernen Bocksessel des Kontors hin, den einzig bequemen. »Setzen Sie sich, Herr Leutnant, bitte setzen Sie sich«, sagt er mit einem gewissen zärtlich eindringlichen Ton, während er sich selbst, ehe ich zugreifen kann, bloß einen der fragwürdigen Strohsessel heranholt. Nun sitzen wir hart aneinander, er könnte, er sollte jetzt beginnen, und ich warte darauf mit einer begreiflichen Ungeduld, denn was kann er, der reiche Mann, der Millionär, mich armseligen Leutnant zu bitten haben. Aber hartnäckig hält er den Kopf gesenkt, als betrachtete er angelegentlich seine Schuhe. Nur den Atem höre ich aus der vorgeneigten Brust. Er geht gepreßt und schwer.
Endlich hebt Kekesfalva die Stirn, sie ist feucht überperlt, nimmt die angehauchte Brille ab, und ohne diesen blitzenden Schutz wirkt sein Gesicht sofort anders, gleichsam nackter, ärmer und tragischer; wie oft bei Kurzsichtigen erscheinen seine Augen viel stumpfer und müder als unter dem verstärkenden Glas. Auch meine ich an den leicht entzündeten Lidrändern zu erkennen, dieser alte Mann schläft wenig und schlecht. Wieder spüre ich jenes warme Quellen innen – das Mitleid, ich weiß es jetzt schon, bricht hervor. Mit einmal sitze ich nicht mehr dem reichen Herrn von Kekesfalva gegenüber, sondern einem alten sorgenvollen Mann.
Aber jetzt setzt er räuspernd an: »Herr Leutnant« – die eingerostete Stimme gehorcht ihm noch immer nicht – »ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten . . . Ich weiß natürlich, ich habe kein Recht, Sie zu bemühen, Sie kennen uns ja kaum . . . übrigens, Sie können auch ablehnen . . . selbstverständlich können Sie ablehnen . . . Vielleicht ist es eine Anmaßung von mir, eine Zudringlichkeit, aber ich habe vom ersten Augenblick an zu Ihnen Vertrauen gehabt. Sie sind, man spürt das gleich, ein guter, ein hilfreicher Mensch. Ja, ja, ja« – ich mußte eine abwehrende Bewegung gemacht haben – »Sie sind ein guter Mensch. Es ist etwas in Ihnen, das einen sicher macht, und manchmal . . . habe ich das Gefühl, als ob Sie mir geschickt wären von . . .« – er stockte, und ich spürte, er wollte sagen, »von Gott« und hatte nur nicht den Mut dazu – »geschickt wären als jemand, zu dem ich ehrlich sprechen kann . . . Es ist übrigens nicht viel, um das ich Sie bitten möchte . . . aber ich rede so weiter und weiter und frag Sie gar nicht, ob sie mir zuhören wollen.«
»Aber gewiß.«
»Ich danke Ihnen . . . wenn man alt ist, braucht man einen Menschen nur anzusehen und kennt ihn durch und durch . . . Ich weiß, was ein guter Mensch ist, ich weiß es durch meine Frau, Gott hab sie selig . . . Das war das erste Unglück, wie sie mir weggestorben ist, und doch, heut sag ich mir, vielleicht war es besser, daß sie das Unglück mit dem Kind nicht hat mitansehen müssen . . . sie hätte es nicht ertragen. Wissen Sie, wie das anfing vor fünf Jahren . . . da glaubte ich zuerst nicht dran, daß das lange so bleiben könnte . . . Wie soll man sich vorstellen können, daß da ein Kind ist wie alle andern und läuft und spielt und saust wie ein Kreisel herum . . . und plötzlich soll das vorbei sein, für immer vorbei . . . Und dann, man ist doch aufgewachsen mit einer Ehrfurcht vor den Ärzten . . . in der Zeitung liest man, was für Wunder sie wirken können, Herzen können sie vernähen und Augen umpflanzen, heißt es . . . Da mußte doch unsereins überzeugt sein, nicht wahr, daß sie das Einfachste können, was es gibt . . . daß sie einem Kind . . . einem Kind, das gesund geboren ist, das immer ganz gesund gewesen war, rasch wieder aufhelfen. Deshalb war ich am Anfang gar nicht sehr erschrocken, denn ich glaubte doch nie daran, nicht einen Augenblick glaubte ich daran, daß Gott so etwas tun könne, daß er ein Kind, ein unschuldiges Kind, für immer schlägt . . . Ja, wenn es mich getroffen hätte – mich haben meine Beine lang genug herumgetragen. Was brauch ich sie noch . . . und dann, ich war kein guter Mensch, viel Schlechtes habe ich getan, ich hab auch . . . Aber was, was sagte ich eben? . . . Ja . . . ja also, wenn es mich getroffen hätte, das hätt ich begriffen. Doch wie kann Gott so daneben schlagen auf den Unrechten, den Unschuldigen . . . und wie soll unsereins begreifen, daß an einem lebendigen Menschen, an einem Kind, die Beine plötzlich tot sein sollen, weil so ein Nichts, ein Bazillus, haben die Ärzte gesagt und meinen, sie hätten etwas damit gesagt . . . Aber das ist doch nur ein Wort, eine Ausrede, und das andere, das ist wirklich, daß ein Kind daliegt, auf einmal sind ihm die Glieder starr, es kann nicht mehr gehen und sich nicht mehr regen und man selber steht wehrlos dabei . . . Das kann man doch nicht begreifen.«
Er wischte sich heftig mit dem Handrücken den Schweiß von dem angenäßten, verwirrten Haar. »Natürlich habe ich alle Ärzte befragt . . . wo nur einer von den Berühmten war, sind wir zu ihm gefahren . . . alle habe ich sie mir kommen lassen, und sie haben doziert und lateinisch geredet und diskutiert und Konsilien gehalten, der eine hat das versucht und der andere das, und dann haben sie gesagt, sie hoffen und sie glauben, und haben ihr Geld genommen und sind gegangen und alles ist geblieben, wie es war. Das heißt, etwas besser ist es geworden, eigentlich schon bedeutend besser. Früher hat sie immer flach auf dem Rücken liegen müssen und der ganze Leib war gelähmt . . . jetzt sind doch wenigstens die Arme, ist der Oberkörper normal, und sie kann allein an ihren Krücken gehn . . . etwas besser, nein, viel besser, ich darf nicht ungerecht sein, ist es geworden . . . Aber ganz geholfen hat ihr noch keiner . . . Alle haben die Achseln gezuckt und gesagt: Geduld, Geduld, Geduld . . . Nur einer hat ausgehalten mit ihr, einer, der Doktor Condor . . . ich weiß nicht, ob Sie je von ihm gehört haben. Sie sind doch aus Wien.«
Ich mußte verneinen. Ich hatte den Namen nie gehört.
»Natürlich, wie sollen Sie ihn kennen, Sie sind ja ein gesunder Mensch, und er gehört nicht zu denen, die von sich viel Wesens machen . . . er ist auch gar nicht Professor, nicht einmal Dozent . . . ich glaub auch nicht, daß er eine gute Praxis hat . . . das heißt, er sucht keine große Praxis. Er ist eben ein merkwürdiger, ein ganz besonderer Mensch . . . ich weiß nicht, ob ich’s Ihnen recht erklären kann. Ihn interessieren nicht die gewöhnlichen Fälle, nicht, was jeder Bader behandeln kann . . . ihn interessieren nur die schweren Fälle, nur die, an denen die andern Ärzte mit Achselzucken vorübergehen. Ich kann natürlich nicht, ich ungebildeter Mensch, behaupten, daß Doktor Condor ein besserer Arzt ist als die andern . . . nur das weiß ich, daß er ein besserer Mensch ist als die andern. Ich hab ihn zum erstenmal kennengelernt, damals, bei meiner Frau, und gesehen, wie er gekämpft hat um sie . . . Er war der einzige, der bis zum letzten Augenblick nicht nachgeben wollte, und damals hab ich’s gespürt – dieser Mensch lebt und stirbt mit jedem Kranken mit. Er hat, ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke . . . er hat eben irgendeine Passion, stärker zu sein als die Krankheit . . . nicht wie die andern bloß den Ehrgeiz, sein Geld zu kriegen und Professor und Hofrat zu werden . . . er denkt eben nicht von sich aus, sondern von dem andern her, von dem Leidenden . . . oh, er ist ein wunderbarer Mensch!«
Der alte Mann war ganz in Erregung geraten, seine Augen, eben noch müde, bekamen einen heftigen Glanz.
»Ein wunderbarer Mensch, sage ich Ihnen, der läßt niemand den im Stich; für ihn ist jeder Fall eine Verpflichtung . . . ich weiß, ich kann das nicht richtig ausdrücken . . . aber es ist