Die Wächter von Magow - Band 4: Die kleine Spreejungfrau. Regina Mars

Die Wächter von Magow - Band 4: Die kleine Spreejungfrau - Regina Mars


Скачать книгу
angelte eine neue Tüte aus dem Schreibtisch. Sein Ärmel rutschte hoch und die tätowierten Worte 'This is fine' erschienen, zusammen mit bunten Zeichnungen voller Flammen. Gantar behauptete, dass es als magisches Wesen peinlich sei, Tattoos von feuerspeienden Drachen und Einhörnern zu haben. Viel zu plump. Auf seinem rechten Oberarm tummelten sich daher feuerspeiende Steuerberater und Sozialpädagoginnen. Eine war so detailliert gearbeitet, dass man das Wort »Inge« auf ihrem Namensschild erkennen konnte.

      »Tut mir leid, dass sie so gemein zu dir sind«, sagte Vivi. »Du machst einen tollen Job.«

      »Ich weiß.« Gantar riss die neue Tüte auf. »Du auch, Fischi.«

      »Danke.« Vivi versuchte, ihren Atem zu beruhigen.

      Es wird alles gut, dachte sie. Das ist nur ein kleiner Routineeinsatz. Wahrscheinlich finden sie in der Lagerhalle gar nichts. Bestimmt.

      'Kühlhaus Hammerschmied' stand auf der Seite des flachen Gebäudes. Hierhin hatte sie die Spur der Amulette geführt, die in letzter Zeit überall in Magow auftauchten. Und leider auch außerhalb. Der Rattenkönig hatte sein Unwesen im nicht-magischen Berlin getrieben und sie mal wieder alle an den Rand der Entdeckung gebracht.

      Vivi war selbst Teil des Teams gewesen, das die Spuren des Rattenkönig-Amuletts verfolgt hatte. Über seinen letzten Träger, einen DJ von Sofies alter Arbeitsstelle, war wenig bekannt und die Ermittlungen wären beinahe im Sande verlaufen. Beinahe. Leider konnte Vivi einem guten Rätsel nie widerstehen. Und so lange ihr Team zum Putzdienst verdonnert gewesen war, hatte sie in der Informationszentrale ausgeholfen.

      Sie verfluchte sich selbst dafür, aber sie hatte nicht aufgegeben. Tagelang hatte sie die Kanalisation unter Magow und Berlin studiert, sich über Strömungen und Verbindungen kundig gemacht, bis sie mehrere Orte gefunden hatte, an denen eine Leiche unerkannt vor sich hin verwesen konnte. Und hatte Erfolg gehabt.

      Ihr Team hatte eine Frau gefunden, nun, ihre Überreste. Mit einem medaillongroßen Loch in der Brust. Dem Loch, das das Rattenkönig-Amulett hinterließ, nachdem der König sein Opfer ausgesaugt hatte. Die Wächter hatten das Opfer identifiziert: Nazli Turgut, seit sieben Wochen vermisst, Ehefrau von Orkun Turgut, der die sehr beliebte Fressbude »Imperium des Döner‘s« führte.

      Nachdem sie ihm die schlechte Nachricht überbracht hatten, war Orkun kaum ansprechbar gewesen. Aber ihr Sohn hatte sich an ein Amulett erinnert. Eins, das aus einer Ladung gefrorener Dönerspieße herausgefallen war, als sie sie in den Kühlraum gebracht hatten.

      »Hässlich war das. Lauter Ratten drauf und ganz schwarz, mit so einer langen Kette.«

      Er hatte nicht gedacht, dass seine Mutter es anziehen würde. Aber anscheinend hatte sie es umgelegt und war damit zum ersten Opfer des Rattenkönigs geworden. Am Morgen danach waren sie und das Amulett verschwunden.

      »Die Spur ist längst kalt«, murmelte Vivi. »Falls in dem Lagerhaus irgendwas vor sich ging, haben die längst ihre Sachen gepackt und sind abgehauen.«

      »Zugriff!«, brüllte Onkel Lars durch die Kopfhörer und sie zuckte zusammen. Schweißbedeckt sah sie zu, wie die Kameraaufnahmen auf ihrem Bildschirm wackelten. Ihre Freunde liefen. Genau auf die Lagerhalle zu.

      »Wurde auch Zeit«, hörte sie Jean knurren. »Wenn da ein Oger drin ist, gehört der mir, klar?« Sie sah sein Gesicht nicht, nur das Schwert in seiner Faust.

      »Warum soll da ein Oger drin sein?«, fragte Isa.

      »Ich wollte schon immer mit einem Oger kämpfen.«

      »Du willst mit allem kämpfen«, keuchte Sofie. Selbst sie trug ein Schwert, auch wenn sie kaum damit umgehen konnte. »Aber hey, wenn es dir wichtig ist: Jeder Oger da drin gehört dir.«

      »Gut.«

      Die Tür kam in Sicht. Aus Sofies Kamera sah Vivi Jean und Nat, die sich links davon aufstellten, den Rücken zur Wand. Isa verwandelte sich, zerriss ihre Kleidung und zerfetzte das Vorhängeschloss mit einem Pfotenhieb. Sie riss die Tür auf.

      Innen wirkte die Lagerhalle unendlich. Leuchtstoffröhren hingen an der Decke und tauchten meterlange Metallregale in grelles Licht. Ventilatoren schwirrten und auf jeder Oberfläche lag Raureif. In Folie verpackte Fleischspieße reihten sich auf den Regalbrettern, stapelten sich bis zur Decke hoch, in anderen lagen Plastikkisten, riesige wie winzige.

      Vivi steckte sich den Daumen in den Mund und biss ihn fast durch, während sie die Szene auf dem Bildschirm beobachtete. Sie schmeckte Salz und Lavendel-Handcreme. Ihr Team schlich durch die Lagerhalle, ging die Regalreihen ab. Unablässig zogen sie an ihnen vorbei, während leiser Atem in Vivis Ohren drang. Auf der anderen Seite, verborgen hinter einer Wand gefrorener Dönerspieße, musste Gantars Team dasselbe machen.

      Langsam arbeiteten sie sich bis zur Mitte vor. Dampf beschlug die Linsen der Kameras. Die Sicht wurde schlechter und Vivis Herz krampfte sich zusammen.

      »Scheint keiner da zu sein«, flüsterte Isa. Ihre Stimme war so schön, als würde Vivi sie zum letzten Mal hören.

      Die Linsen beschlugen weiter. So ein Mist. Vivi unterdrückte den Impuls, über den Bildschirm zu wischen und ignorierte das Klirren ihrer Armreifen. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie sie in die Oberschenkel krallen musste.

      Isa, dachte sie. Isa.

      Etwas klapperte. Absolute Stille kehrte ein. Selbst das Knistern von Gantars Flipstüte war verstummt.

      Nat bog um eine Ecke und Vivi sah, woher das Geräusch stammte: Ein Klappstuhl lag auf dem Boden. Daneben stand ein breitschultriger Mann und sah sie entsetzt an. Beziehungsweise ihr Team.

      »Scheiße«, sagte der dunkelhaarige Kerl. Er war jung, trug eine Armeehose, ein kurzärmeliges Shirt und einen Schlagstock. Eindeutig der Nachtwächter. »Scheiße, ist das ein Werwolf?«

      Isa musste in Sicht sein. Hinter dem Mann sah Vivi, dass das zweite Team auch gerade aufgetaucht war. Liliflora und Nikolas waren in voller Wächtermontur und trugen Schwerter in den Händen. Die Zwillinge ebenfalls, auch wenn sie in leicht zerreißbare Sportklamotten gekleidet waren. Sie waren gute Schwertkämpfer, obwohl sie meist als Werwölfe arbeiteten.

      »Hallo«, sagte Isa freundlich.

      Der Nachtwächter starrte sie immer noch an.

      »Keine Angst, du vergisst mich gleich. Wir sprühen dir Memorial ex ins Gesicht und du wirst nicht mal mehr von uns träumen.«

      »Hör auf zu labern, Grimm!« Liliflora warf den Zopf über ihre Schulter und richtete das Schwert auf den Nachtwächter. »Setz dich.« Sie lächelte süß. »Wir haben ein paar Fragen. Jungs, ihr durchsucht das restliche Lager. Ich rede mit unserem Freund hier.«

      »Isa, pass auf Liliflora auf«, sagte Nat. Er klang leicht beunruhigt. Was, glaubte er, würde die Dryade anstellen? Oder hatte er Angst, dass der Nachtwächter nicht das war, was er schien? Nämlich ein Kerl, der sie alle anglotzte, als kämen sie vom Mond?

      »Isa?« Liliflora verzog das Gesicht. »Ich brauche bestimmt keine Hilfe von deinem Hundchen.«

      Vivi ballte die Finger zu Fäusten und beinahe hätten sie aufgehört zu zittern. Wie konnte sie es wagen, so über Isa zu sprechen? Isa, die sie alle gerettet hatte, in dem furchtbaren Bunker!

      »Ich bleib trotzdem hier«, sagte Isa gleichmütig. »Nicht, dass du den armen Kerl noch folterst oder irgendwelche Dryadenkunststücke mit ihm anstellst.«

      Liliflora lachte lieblichst. »Sicher. Du würdest nie gegen mich ankommen. Bei unserem letzten Kampf bist du einfach umgekippt.«

      »Hatte Nasenbluten.« Isa setzte sich und wedelte mit dem Schwanz. »He, Nachtwächter, du musst echt keine Angst haben. Wir tun dir nichts. Wir schauen nur, ob mit dieser Lagerhalle alles in Ordnung ist. Echt.«

      Der Nachtwächter schwitzte sichtlich. Dampf stieg vor seinem Mund auf und von seinen bloßen Schultern ebenfalls.

      Etwas stimmte nicht.

      Ein ungutes Gefühl krampfte Vivis Magen zusammen, zusätzlich


Скачать книгу