Sagen reloaded. Группа авторов
die, so ist zu hoffen, auch ganz im Sinne einer wohlwollenden Leserschaft geschehen ist. Die Sage, klar abzutrennen von den verwandten Textsorten Märchen oder Legende, sollte dabei, so unser schon vor Jahren in Gesprächen ausformulierter Gedanke, sowohl auf ihre Verbindungen von Geschichte, Geschichten und Geschichtsschreibung hin befragt werden als auch auf die Kontexte eines zu problematisierenden Erzählens. In der Umsetzung ist dies weit lustvoller und lebendiger als es in diesen etwas spröde anmutenden Sätzen anklingen mag, stehen im Zentrum der Sagen doch oft Fragen und Herausforderungen, die auch in unseren Tagen nichts von ihrer grundsätzlichen Bedeutung eingebüßt haben. Es sind die sprichwörtlich großen Themen, denen wir in unserer menschlichen Zerbrechlichkeit, Schönheit oder auch Schrecklichkeit weder entkommen können noch wollen.
Um diese Aktualisierungen zu gewährleisten, wollten wir unseren Autorinnen und Autoren möglichst viele Freiheiten gewähren, ohne aber auf die einfache, doch wahre Klausel zu vergessen, dass wenige, doch verbindliche Vorgaben anregender wirken können, als wenn einfach alles erlaubt ist (oder zu sein scheint). So entschieden wir uns zuletzt für zwei strukturelle Spielregeln: Einerseits sollte ein deutlicher Bezug zu einer österreichischen Sage, den darin eingelagerten Motiven und dem jeweiligen Bundesland eingelöst werden, andererseits, ganz gemäß den vorliegenden Sagensammlungen, sollte der neue literarische Text im Umfang eher knapp bemessen sein. Dass die Kürze der durch die Sagenforschung zusammengetragenen Texte wohl auch den Bedingungen des Sammelns an sich geschuldet ist, sei an dieser Stelle schon erwähnt – nachdem wir aber sonst keinerlei weitere Vorgaben machen wollten, konnte diesem Umstand von unserer Seite aus Rechnung getragen werden: Neben einer ausführlichen Nachbemerkung, die alle Aspekte der österreichischen Sagen, ihrer Geschichte, Verbreitung und Erforschung vorstellt, haben wir den biografischen Anhang um grundsätzliche Informationen zu den Sagentexten, auf die jeweils Bezug genommen wurde, ergänzen können. Ganz vorsätzlich haben wir auf einen Wiederabdruck der ursprünglichen Texte verzichtet, die ja nicht nur ohnehin leicht verfügbar sind, sondern vielleicht auch eher von den hier erstmals zusammengestellten Beiträgen abgelenkt hätten. Die gelungene Auseinandersetzung mit den Sagen zeigt sich in ihrer lustvollen kritischen Befragung und Aktualisierung, das Spektrum der literarischen Annäherungen reicht dabei von der klassischen Nacherzählung bis zum interaktiven Spiele-Text, von der lyrischen Prosa bis zum filmischen Treatment, vom Essay bis zur dramatischen Szene. Die Zusammenstellung im Band folgt, nach langer Überlegung, einer alphabetischen Ordnung gemäß den Nachnamen der Autorinnen und Autoren – so hat sich nicht nur eine wünschenswerte Durchmischung nach Bezugstexten und Bundesländern ergeben, vielmehr konnten wir so auch verhindern, das insbesondere in unserer Gegenwart so kritisch zu durchleuchtende Moment der Grenze erneut zu bestätigen oder gar zu verfestigen. Vielmehr, und das ist uns mit den hier versammelten Texten hoffentlich gelungen, war es uns ein übergeordnetes Anliegen, das Wandern von Motiven, Bildern und Fragen nachzuzeichnen und dem menschlichen Grundbedürfnis des Erzählens gemeinsam nachzuspüren.
Wir danken deshalb an erster Stelle allen Autorinnen und Autoren, die unserer Einladung so bereitwillig gefolgt sind und uns alle mit ihren Texten beschenkt haben; wir danken dem Team des Czernin Verlags, das unseren Vorschlag mit großer Begeisterung aufgenommen und in allen Phasen der Erarbeitung unterstützt hat, und last, but not least danken wir Noémi Kolbus, die unsere fordernde editorische und redaktionelle Arbeit mit humorvoller Unerschütterlichkeit und viel Elan begleitet hat.
Thomas Ballhausen & Sophie Reyer
(Wien, im Sommer 2020)
Elisa Asenbaum
Der Rachen der Hexe
Am Abend des 11. März 1936*1 ging ein junger Bursche durch das Dorf, als ihm ein Mädchen begegnete, welches seine Schürze um den Kopf geschlagen hatte. Man sah nur ihre Augen hervorblitzen, denn sie hatte die Schürze über das Haupt und seitlich bei den Ohren kreuz und quer über Mund und Nase gefaltet, das Band auf dem Hinterkopf zu einem Knoten festgezogen, schwebten die Enden flatternd im Wind.
Neugierig, wer dies sei, rief der Bursche: »He, Dirndl, nimm den Fetzen vom Birndl!«
Doch sie wollte sich ihm nicht zeigen. Er verstellte ihr den Weg und bestand, sie schickte sich an, ihn zu umgehen, da packte er sie und versuchte ihr die Schürze vom Antlitz zu reißen.
Als Antwort landete ein Milchreimer in der Fresse, die sein Gesicht gewesen war. Der Milchreimer war früher ein Milcheimer, ein Kübel mit dem man kübelt. Besser wäre es gewesen, der Bursch hätte sie nicht aufgehalten, denn sie war nicht von hier. Auch der Kübel hatte seine Geschichte und vollführte seine Bewegungen in Eigendynamik.
Der Kübel, auch Einer mit m – somit Eimer genannt, fühlte sich ziemlich gereizt, denn er war seit Jahrhunderten Gegenstand einer unabgeschlossenen Debatte. Das Mädchen hatte ein unglaubliches Schicksal, denn sie war dazu verdammt, in einem Blockuniversum zu leben. Im Blockuniversum ist das Jetzt nicht ausgezeichnet, Vergangenheit und Zukunft sind gleichermaßen vorhanden, wie ein Weltfilm von allem, von Anfang bis Ende in einem, Block in Einem gefroren, ohne Anfang und Ende. So irrte das Mädchen mit dem Eimer durch die Zeit, ohne je anzukommen. Den Eimer hatte sie im Auftrag von Newton mit Wasser zu füllen, der davon besessen war, zu beweisen, dass es einen absoluten Raum gibt. Immer wieder hängte Isaac den Eimer an eine lange verdrillte Schnur in seinem Labor, ließ ihn los und beobachtete das Wasser in ihm. Es drehten sich der Eimer und das Wasser nicht, dann drehten sich der Eimer und das Wasser mit, dann war der Eimer ausgedreht und das Wasser drehte sich weiter …, aber was ihm insbesondere bedeutungsvoll schien, war die konkave Form des Wasserspiegels, die nach einigem Rundumdrumdrumdrehen zu sehen war. Das war sein Beweis. Immer wieder schickte er sich an, dieses Eimerexperiment zu wiederholen, schickte das Mädchen abermals und abermals von Neuem, den Kübel zu füllen. Das Mädchen hatte sich erhofft, dass Newton, ein Meister der Wissenschaft, ihr das Schicksal ihres unglaublichen Seinszustandes mit dem fehlenden Moment erläutern könnte, denn sie glaubte nicht an Geister und hoffte durch Erkenntnis auf ein absehbares Ende dieses unnatürlichen Zustandes. Doch Isaac wollte das Mädchen, die ihm wie eine Magd plötzlich vor seiner Türe erschienen war, nicht zu Wort kommen lassen. Während er*2 einen Brief an Ernst Mach*3 schrieb, der an das Schuhschachtelsystem von Raum und Zeit nicht glauben wollte, und darin das Eimerexperiment als Beweis für den Absoluten Raum anführte, machte sich das Mädchen, welches den Eimer mit Wasser neu befüllen sollte, mit dem Eimer ohne Wasser aus dem Staub. Seitdem trug sie den Eimer, der Einer war, bei sich.
Unglücklicherweise wirkte sich die Begleitung des Experimentaleimers auf ihren Seinszustand schlecht aus. Ihr kurzes Verweilen in irgendeinem Jetzt wurde überhaupt nicht mehr bestimmbar, es war sprunghaft geworden. Auch wollte der Eimer nicht von ihrer Seite weichen, sie konnte ihn, den Einen, nicht abstellen, loswerden, der Henkel klebte wie verhext an ihrer Hand.
Bevor sie dem Burschen im österreichischen Burgen Lande begegnen würde, wurde sie blitzschnell zu einigen anderen Zeit-Raumpunkten katapultiert. Lichtschnell fand sie sich an weit auseinanderliegenden Zeit-Ortpunkten wieder, sodass ihr Bewusstsein mit der Geschwindigkeit des Wechsels kaum mitkam. Erinnern konnte sie sich an ein schönes warmes Land im Orient mit zauberhaftem Schloss mit runder Kuppel und vier spitzen Türmen, in das sie eintreten wollte, um diese Pracht von innen zu betrachten, als eine Horde von bewaffneten Männern auf sie stürzte und sie in einen dunklen Kerker warf. Ihr Verbrechen hatte darin bestanden, dass sie unverhüllt eine Moschee betreten wollte. Seitdem trug sie ihre Schürze im Gesicht. Danach war sie im Jahre 2002 in der USA kurz aufgepoppt, dort wurde sie alsbald als Terrorist verhaftet, da sie das Vermummungsverbot missachtet hatte. Danach fand sie sich in einer ärmlichen islamischen Familie als Braut wieder, die Schürze wieder vor dem Mund und über dem Kopf, Augenblicke später, es könnte das 21. Jahrhundert im Österlande*4 gewesen sein, wurde sie wegen geschürzter Verschleierung in einer Pause von Schulknaben