Die Wächter von Magow - Band 1: Rendezvous mit dem Rattenkönig. Regina Mars

Die Wächter von Magow - Band 1: Rendezvous mit dem Rattenkönig - Regina Mars


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Aber sie konnte die Augen nicht von dem Ding lösen, das die Treppenstufen hinunterkam.

      Blaues Scheinwerferlicht huschte über leere Augenhöhlen und verklebtes Fell. Der Gestank wurde unerträglich. Sofie hätte sich ihr Shirt über die Nase gezogen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Ein Schweißtropfen lief über ihre Arme und versickerte zwischen ihren Fingern. Erst jetzt kapierte sie, wie absurd dieser Moment war. Das Koval war von Ratten überrannt worden, Dennis war verschwunden und sie stand mit drei Schwertträgern, von denen einer vermutlich ein Werwolf war, auf der Theke und starrte auf … das.

      Den Rattenkönig. Oder eher: ein Dutzend gigantische Ratten. In verschiedenen Stadien der Verwesung, an den Schwänzen zusammengewachsen. Wie ein lebendes Rad liefen die Viecher die Treppe hinunter. Sie hätten lächerlich gewirkt, wenn sich nicht alles so falsch angefühlt hätte. Die eckigen Bewegungen. Die glänzenden Rippen, die aus schwärenden Wunden stachen und die augenlosen Blicke aus den blanken Schädelknochen. Fette Fliegen umschwirrten das Monster.

      Fiepsen ging durch den Raum, jede einzelne Ratte schrie, zitterte und traute sich doch nicht, sich zu bewegen. Süßlicher Uringestank breitete sich zwischen ihnen aus.

      Das grässliche Wesen torkelte durch den Saal. Die untote Riesenratte, die gerade vorn war, packte ins Meer der Nager und holte ein kreischendes, sich windendes Tier aus der Menge.

      Sie zerbiss es zwischen ihren gelbliche Hauern. Blut verklebte die Schnurrhaare, die noch an ihrem Totenschädel hingen. Tausend Ratten schrien. Sofies Ohren gellten, aber sie war zu versteinert, um sich zu bewegen.

      »Fuck«, murmelte sie. Panik verknotete ihren Magen.

      Es kommt auf uns zu. Verdammt, das Mistvieh kommt auf uns zu. Ich hoffe, die anderen wissen, wie man es loswird, weil … Oh, Gott. Es ist fast da.

      »Isa?« Nats Stimme schwankte leicht.

      »Keen Problem«, brachte Isa hervor, eine Oktave höher als zuvor. »Der ist größer als gedacht, aber gar kein Problem, das haben wir alles besprochen. Ich greife an und ihr zerteilt den Knoten.«

      »Ja.« Wenigstens Jean klang halbwegs ruhig. Doch als Sofie ihn ansah, schaute er, als würde seine Mannschaft gerade Null zu Neun verlieren.

      »Okay, dann … los.« Isa wirkte, als würde sie alles andere lieber tun. »Okay. Bereit?«

      »Bereit.« Jean packte sein Schwert noch fester. Blut glitzerte auf der Klinge.

      »Sollen wir nicht versuchen, mit ihm zu reden …«, begann Nat.

      »Nein!«, fauchte Jean.

      Etwas ratschte. Kleidung. Sofie fuhr herum und sah, wie die Reste des Fußisan-Shirts von fellbedeckten Muskeln zerrissen wurden. Giftgrüne Streifen flogen durch die Luft.

      Ach, deshalb, dachte Sofie, klar und ruhig, als wäre das alles nur ein Traum. Logisch, wenn sie die Sachen eh zerreißt, sollten die billig sein. Bei der Verwandlung. In einen Werwolf.

      Klauen kratzten über die klebrige Theke. Das Fiepen der Ratten schraubte sich in unerträgliche Höhen. Kein Wunder. Das Vieh war riesig. Das Vieh, das gerade noch Isa gewesen war. Selbst geduckt überragte es Sofie. Gigantische Reißzähne wuchsen aus einem Raubtiermaul, viel zu viele Zähne, und viel zu spitz und … Oh, fuck. Der Wolfsschädel wandte sich Sofie zu, die rotglühenden Augen fixierten sie.

      Die Wölfin zwinkerte. In ihrem Fell entdeckte Sofie die Glitzerhaarspange, die immer noch am Ende eines aufwendig geflochtenen Zopfes hing.

      Ein Werwolf. Eine Werwölfin. Sofie zwang sich, nicht zurückzuweichen, auch wenn alles in ihr danach schrie, abzuhauen.

      Bitte, lass es bald vorbei sein, dachte sie.

      Aber das war es nicht. Als die Werwölfin die Muskeln anspannte, den Rattenkönig fixierte, einen Schritt vor machte, um zu springen …. trat sie auf ein Messer. Ein lächerlich kleines Messer mit gelbem Plastikgriff, mit dem Sofie die Zitronenscheiben für die Cocktails geschnitten hatte. Als es zwischen den gebogenen Klauen der Wölfin verschwand, wirkte es wie ein Kinderspielzeug. Es wirkte auch wie ein Kinderspielzeug, als die Wölfin fiepste, die Pfote hob und die winzige Klinge betrachtete, die in der schwarzen Hornhaut steckte. Ein Tropfen Blut rann über den gelben Griff und zerplatzte auf den Zitronenscheiben.

      Die Wölfin verdrehte die Augen und kippte um. Wie ein Erdrutsch krachte ihr mächtiger Körper von der Bar und zu Boden. Ihr Fell zitterte und kam zum Stillstand.

      Schweigen. Selbst die Ratten waren ruhig.

      Alle starrten auf den gigantischen Wolf, der vor ihnen auf dem Rücken lag und die Pranken in alle Richtungen streckte.

      »Nicht schon wieder«, knurrte Jean.

      »Was ist mit ihr?«, kreischte Sofie. Ihre Fingernägel krallten sich in ihre Handflächen.

      »Alles gut.« Nats Stimme wackelte. Panisch lächelte er sie an. »Sie kann kein Blut sehen. Also ihr eigenes. Aber wir schaffen es trotzdem. Jean und ich kriegen das auch alleine hin, richtig, Jean?«

      »Ja.« Jean sprang. Er landete inmitten des Rattenmeeres und rannte los, das Schwert senkrecht haltend wie ein Samurai. Innerhalb von Sekunden war er von Ratten bedeckt. Sie schwärmten über ihn wie eine Flutwelle.

      »Jean!« Nat sprang hinterher. »Jean, stürm doch nicht einfach so los! Wir sind ein Team! Teamwork!«

      Jean rief etwas, das wie ein gedämpftes »Ich scheiß auf Teamwork« klang, aber Sofie war nicht sicher. Hörte sich an, als hätte er eine Ratte im Mund.

      Aber er hielt nicht an. Egal, wie viele Nager sich ihm vor die Füße warfen, er mähte durch das graue Meer wie ein Eisbrecher.

      Der Rattenkönig hob die Köpfe. Ein Dutzend Totenschädel mit spitzen Zähnen lauschte. Jean war fast bei ihm.

      Der König schrie.

      Dolche stießen in Sofies Trommelfell, Gläser rutschten von der Bar und zerschellten. Fast wäre sie hinterhergestürzt. Der Schrei presste sie rückwärts, doch sie ging in die Knie und klammerte sich an der Kante fest.

      Nat und Jean hatten nicht so viel Glück. Die Schallwelle erfasste sie und schleuderte sie rückwärts. Ihre Körper prallten gegen die Bar. Sofie spürte die Erschütterung unter ihren Knien.

      Vorsichtig lugte sie über den Rand und sah die beiden regungslos daliegen, nicht weit von Isa. Nat hatte seine Brille verloren und Jean lag flach auf dem Gesicht.

      Der Schrei verstummte. Die Knochenkiefer schlossen sich und der Rattenkönig verharrte. Um ihn herum schlossen wuselnde Ratten die Löcher, die die Schallwellen in ihr Meer gerissen hatten: strahlenförmig von der Mitte ausgehende Schneisen, die augenblicklich verschwanden.

      Der König verharrte. Und dann wandten die vordersten Ratten die Köpfe und sahen Sofie an.

      Klebrige Theke unter ihren klammen Fingern. Hektischer Atem, enge Brust. Sie war allein.

      Ich werde sterben, dachte sie.

      Der König wankte los, auf sie zu. Und Sofie verschwand.

      Einen Moment lang hörte sie Vögel zwitschern und die weit entfernte Straße brummen. Sonnenstrahlen drangen durch das Blätterdach und zauberten gleißende Flecken auf den Tisch und den flachen, weißen Karton. Sie hatten Pizza bestellt, weil sie keine Lust gehabt hatten zu kochen. Eine Familienpizza mit Bergen von Spargel und Sauce Hollandaise, weil sie Papa das Bestellen überlassen hatten. Sofie spürte Leons Arm um ihre Schultern, den Duft seines Lemon Fresh-Duschgels. Sie sah sie lachen, Papa, Monika und Cassa. Ja, in diesem Moment war alles perfekt. Sie hatte eine Familie. Einen Vater, die liebste Stiefmutter der Welt, eine beste Freundin. Und einen Freund.

      Vor dem Unfall war es so gewesen.

      Sie sah Cassa wild gestikulieren. Ihre beste Freundin erzählte, was sie nach dem Abi vorhatte, wenn sie endlich frei war. Nach Berlin ziehen, feiern, studieren, Spaß haben.

      Leon brummte etwas in Sofies Ohr und ließ sie von seinem Pizzastück abbeißen.

      »Was?«,


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