Die Wächter von Magow - Band 1: Rendezvous mit dem Rattenkönig. Regina Mars

Die Wächter von Magow - Band 1: Rendezvous mit dem Rattenkönig - Regina Mars


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kommt«, sagte Leon. »Reiß dich zusammen.«

      Oh, richtig.

      Dann war sie zurück. Der König war fast bei ihr und der Verwesungsgestank, der von ihm ausging, sickerte in ihre Kehle. Die Ratten kamen mit ihm, jetzt, wo Isa keine Gefahr mehr darstellte. Hinter sich hörte sie Rascheln und Scharren.

      Denk, Sofie. Du musst abhauen. Nach hinten, ins Lager. Aber da sind noch mehr Ratten. Am König kommst du auch nicht vorbei. Vor allem, wenn er schreit …

      Eine Ratte lief über ihren Fuß. Sie kletterten auf die Theke.

      Fuck, dachte Sofie. Und dann fiel ihr Blick auf die Vitrine hinter der Bar. Glänzende Schnapsflaschen, angestrahlt von Leuchtröhren, verblasste Fotos, die Kasse.

      Ein Kitzeln am Bein. Sie schleuderte die Ratte fort, die versucht hatte, hochzukriechen.

      »Haut ab, ihr Drecksviecher!«, brüllte sie.

      »Was?« Ein blonder Lockenschopf erschien hinter der Theke. Blut rann über Nats Gesicht, von einer Platzwunde auf seiner Stirn. Er schaute verwirrt. Dann packte er in einer blitzschnellen Bewegung zu und erwischte eine Ratte, die über die Theke trippelte. Sekunden später zappelte sie zwischen seinen Zähnen und schrie. Dann schrie sie nicht mehr. Schlürfen erklang und Sofie hätte beinahe zum dritten Mal gekotzt.

      »Nat?«, krächzte sie.

      »Ja?« Nat warf die Ratte hinter sich und lächelte. Grauenerregend, mit blutverschmiertem Mund.

      »Kannst du ihn ablenken?« Sofie suchte die Theke nach den Resten von Isas Shirt ab. Ah, da. »Ich habe einen Plan. Vielleicht.«

      »Wen ablenken?«, fragte Nat und der Rattenkönig schrie erneut. Die Theke zersplitterte. Da, wo die Schallwelle sie getroffen hatte, entstand eine Schneise.

      Zu nah, dachte Sofie, schnappte sich einen Stofffetzen, sprang über das Spülbecken und rannte über die Bar. Nat war zur anderen Seite ausgewichen. Er rollte sich ab und kam wieder auf die Füße.

      »Hallo, Herr Rattenkönig!« Er winkte im Laufen. »Haben Sie keine Angst, wir wollen Ihnen nichts … Ah!« Ein hohes Kreischen und Nat wich einer Schallwelle aus. Knapp. »Eigentlich sollten Sie das nicht können!« Er klang panisch.

      Sofie schnappte sich eine Rumflasche aus der Vitrine und angelte mit der anderen Hand einen Barhocker. Sofort sprang eine Ratte sie an. Spitze Zähne gruben sich in ihren Arm. Sie riss ihn hoch.

      »Au!« Reißender Schmerz. Die Ratte segelte kreischend durch die Luft. Blut rann über Sofies tätowierte Haut.

      Keine Zeit.

      Sie stellte den Hocker auf die Bar, steckte sich die Flasche hinten in den Hosenbund, streckte die Arme aus und sprang.

Die Wächter von Magow - Kapitelgrafik

      Das Gestänge unter der Decke, an dem die Scheinwerfer und Rauchmelder hingen, war eigentlich zu hoch, um daran zu kommen. Sonst hätten sie jedes Wochenende besoffene Junggesellen herunterholen müssen. Aber wenn man einen Hocker auf die Bar stellte, über eine gute Sprungkraft verfügte und leicht war, konnte man es fast schaffen.

      Fast.

      »Verdammte Fickscheiße«, keuchte Sofie, als ihre Finger abrutschten. Links hing sie nur noch mit Mittel- und Zeigefinger an den Metallstreben. Mit der Rechten sah es besser aus, aber auch die glitt langsam ab. Die Schwerkraft zog an ihrem Körper, tonnenschwer. Zu schwer.

      Unter ihr versuchte Nat immer noch, mit dem Rattenkönig zu reden und ihm gleichzeitig auszuweichen. Nur eine der Strategien hatte Erfolg. Rollend und Hechtsprünge ausführend bewegte er sich durch den Raum, viel zu knapp entkommend. Die Schreie des Rattenkönigs drangen an Sofies Ohren, aber die Schallwellen erreichten sie nicht. Die schoss das Vieh präzise parallel zum Boden ab. Rasend schnell.

      Ihre einzige Chance war es, das Tier von oben zu erwischen.

      Aber doch nicht, indem ich drauf falle, dachte sie verzweifelt. In diesen Haufen verwesender Rattenteile. Wahrscheinlich richtet es nicht mal was aus.

      Ihre Finger rutschten weiter. Der linke Mittelfinger verlor den Halt und sie verkrampfte sich. Die Flasche drückte gegen ihr Steißbein und sie spürte den Rum darin gluckern.

      »Nicht aufgeben, Mädchen«, flüsterte sie und versuchte dabei, ihren alten Ausbilder zu imitieren. »Los jetzt.«

      Sie bündelte alle Kraft in der rechten Hand, riss die linke hoch und umklammerte die Stange weiter oben. Das verdammte Ding quietschte und knackte. Aber nun hatte sie Halt. Ächzend zog sie sich hoch. Alles tat weh, ihr Schädel brummte und der Rattenbiss brannte. Egal. Über den Stangen verlief ein schmaler Steg, ein Metallträger, auf dem ihre Füße kaum nebeneinander Platz hatten. Darüber krabbelte sie.

      Sie wollte nicht nach unten schauen. Aber das musste sie, um die richtige Stelle zu finden. Vorwärts kriechend positionierte sie sich direkt über dem Rattenkönig. Dann holte sie die Flasche hervor. Verkrampft wühlte sie den Streifen giftgrünen Stoffs hervor, den sie eingesteckt hatte und stopfte ihn in die Flaschen. Gut. Oder nicht.

      Schlagartig wurde ihr klar, dass sie noch nie einen Molotov-Cocktail gezündet hatte. Was, wenn der in ihrer Hand explodierte? Was, wenn er ihre Finger zerfetzte? Was, wenn er einfach nicht funktionierte?

      Sie sah nach unten. Nat hechtete gerade nach vorn, rutschte aus und landete auf dem Bauch. Sofort waren die Ratten über ihm. Er versuchte, hochzukommen, aber es waren zu viele.

      Wollen sie ihn fressen?, dachte Sofie.

      Ach, sie hatte eh mehr Finger als sie brauchte. Sie wühlte die zerquetschte Tabakpackung aus ihrer Hosentasche, in der das Feuerzeug …

      Nein.

      Entsetzt sah sie, wie die Packung Zigarettenpapier, die sie locker unter die Lasche geklemmt hatte, rutschte. Und fiel. Die blaue Packung segelte genau auf den König zu, drehte sich im Fall …

      »Verreck, du Scheißkönig!«

      Ein Barhocker flog auf das Monster zu. Oh, Jean war wieder wach. Der König schrie und der Hocker zerriss in der Luft. Holzspäne sprühten. Jean wurde zurück gegen die Theke geschleudert.

      Aber es reichte. Die Zigarettenpapiere fielen unbemerkt zu Boden. Mit zitternden Fingern entzündete Sofie den giftgrünen Stoffstreifen.

      Sei brennbar, dachte sie. Bitte sei brennbar!

      Er war brennbar. Verdammt! Ruckartig ließ sie die Flasche los und sie segelte nach unten, den Stoffstreifen und die Flamme hinter sich her ziehend wie einen Kometenschweif.

      Der Rattenkönig sah auf. Alle Schädel ruckten gleichzeitig hoch. Wie hatten sie es gemerkt?

      Die weißen Kiefer öffneten sich zum Schrei.

      Die Flasche landete in einem von ihnen, zwischen gelben Nagezähnen, und dann explodierte sie.

      Sofie zuckte zurück. Glassplitter schossen an ihr vorbei, schnitten in ihre Hosenbeine, verfehlten ihre Augen.

      »Es hat funktioniert«, sagte sie und rutschte ab. Schreiend fiel sie rückwärts. Sie sah das Gestänge kleiner werden, ihre Haare flattern. Ihr Magen hob sich.

      Sie prallte auf Fell. Jemand ächzte.

      Bin ich auf Ratten gelandet?

      Dann sah sie das grinsende Maul über sich.

      »Isa?«, ächzte sie.

      »Ja. Sorry, muss weiter.«

      Sofie verstand die Antwort kaum hinter all den schrillen Rattenschreien. Und, weil so ein Werwolfskiefer wohl nicht zum Sprechen gedacht war. Die Worte klangen seltsam flach.

      Sie wurde auf dem Boden abgesetzt, und erhob sich schwankend. Um sie herrschte Chaos. Ratten rannten unkontrolliert in alle Richtungen, versuchten,


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