Die wilden Jahre. Will Berthold
»Un-schul-dig!« Die Panik skandierte das Wort zu Silben.
Jetzt erfaßte der Angeklagte den ganzen Hinterhalt. Gleichzeitig verlor er die letzte Beherrschung.
»Wenn du weiterlügst, mach ich dich fertig!« schrie er den früheren Hoheitsträger an, dessen Lippen starr und hart aufeinanderlagen.
Der alte Mitkämpfer war auf die Szene vorbereitet, deshalb machte er vor den Richtern, die Recht vom Fließband zu sprechen hatten, die bessere Figur, trotz seiner unsteten Augen, die wie Insekten waren, bereit, beim ersten Widerstand aufzufliegen: gejagte Insekten, Mücken, die sich auf alles setzen müssen, Stechmücken.
»Ich bring die Sache mit den Juden aufs Tapet!« heulte Friedrich Wilhelm Ritt in den Raum. Dann klang seine Stimme wie gewürgt: »Die Transporte nach dem Osten – nach …«
»Stop it now«, sagte der Richter barsch und schlug mit dem Holzhammer auf den Tisch. »You still stand to your statement, Mister Silbermann?« fragte er.
»Bleiben Sie bei Ihrer Aussage, Herr Silbermann?« übersetzte der Dolmetscher.
»Selbstverständlich«, antwortete der alte Pg.
»Du Schwein! Du …« Ritts Stimme überschlug sich.
Er breitete die Hände aus wie Greifzangen, sprang auf den Zeugen los, um auf ihn einzuschlagen.
Da traf ihn der Gummiknüppel des MP; er wurde auf die Anklagebank zurückgerissen.
Ritt weinte und tobte, bis er zusammenbrach. Er benannte andere Zeugen, aber die Richter waren längst beim nächsten Angeklagten, einem Bauern aus dem Fränkischen, der einen amerikanischen Leutnant mit der Mistgabel erstochen hatte. Die Schilderung dieser Tat nahm ihnen die Lust, sich mit den inkriminierten Krauts länger aufzuhalten, als ihnen nötig schien.
Am Abend verkündete der Vorsitzende das Urteil. Der Angeklagte Ritt sah ihm auf die Lippen, betrachtete den Mann beschwörend, der trotz seiner olivgrünen Uniform wie ein Zivilist wirkte.
»Death by hanging«, sagte er.
Das gibt es nicht, dachte der alte Ritt. Mit fliehendem Bewußtsein sagte er sich immer wieder, sinnlos und heiß: das gibt es nicht, keiner wird mehr gehängt, das ist doch Barbarei, das ist Mittelalter, das haben wir doch abgeschafft; wir leben doch in der Zivilisation; wir beide wurden doch geboren, getauft, geimpft; wir lernten Lesen und Schreiben, lebten und liebten, du drüben, ich hüben; wir hatten doch Erfolg und glaubten an unser Zeitalter; wir sind beide froh, diese Unmenschlichkeiten überstanden zu haben. Wer wird denn jetzt noch aufhängen, wird bei Hitler in die Schule gehen …?
Als man Friedrich Wilhelm Ritt in die Festung Landsberg schaffte, aus der das Kriegsverbrechergefängnis geworden war, merkte er, daß sein Leben zu Ende ging. Er wehrte sich gegen die Militärposten. Drei kräftige Burschen waren nötig, das menschliche Wrack einzuladen. Ritt saß zum letztenmal in einem Wagen, der nur eine kurze Strecke in die kleine Stadt rollte, an deren Rand der Galgen stand und der Henker wartete.
Es war Hanselmann, der Scharfrichter des Dritten Reiches; er diente den Amerikanern mit der nämlichen Disziplin wie den Nazis, aber seit man ihn aus dem Internierungslager geholt und wieder in sein Amt eingesetzt hatte, es zweimal in der Woche, Dienstag und Donnerstag in den Vormittagstunden, ab neun Uhr, pedantisch einzuhalten.
Der Mann mit dem düsteren Beruf und dem roten Gesicht – er sah im Cutaway mehr lächerlich als tödlich aus – köpfte nicht mehr, sondern hängte. Er hielt diese Art des Vollzugs für schmerzloser, was den Delinquenten betraf, und für umständlicher, was ihn anbelangte.
Als man Friedrich Wilhelm Ritt die blutrote Gabardinejacke überzog, die Uniform der Todeskandidaten – eine Tasche links, eine rechts, vier Kunststoffknöpfe in der Mitte –, schrie er wie ein Tier im Schlachthof; es half ihm genausowenig.
Er war noch nicht an der Reihe, kauerte in der ebenerdigen Zelle, was auf eine veraltete amerikanische Gefängnisvorschrift zurückging, fürchtete den hohlen Klang der Schritte auf dem Gang, aber noch mehr die plötzliche Stille, die dem Geräusch des Schlüsseldrehens vorausging, fürchtete den untersetzten, breitschultrigen Sergeanten, den die Häftlinge von Landsberg den Todesengel nannten.
In Hunderten von Zellen wurde hier das Strandgut des Krieges verwahrt: Namen, die Millionen kannten, neben Schicksalen, um die nur die Angehörigen wußten. Die Zellen waren gleich eng und hoch, ob sie Minister, Generäle, Diplomaten, Gauleiter, Industrielle oder Frauen bargen. Es gab keine großen Unterschiede. Nur nach der Wachablösung fragten die neuen Militärposten gelegentlich nach Prominenz und tauschten Zigaretten gegen Autogramme.
Friedrich Wilhelm Ritt hoffte, wartete, verzweifelte. Manchmal raste er mit den Fäusten gegen die Wand. Dann wieder ergab er sich still. Er war so schwach, daß er mitunter bei seinem Rundgang in der Zelle umfiel. Aber es würde ihm nichts helfen. Wer zu matt war für den Galgen, wurde getragen.
In Landsberg hatten die Reihengräber Nummern, keine Namen; sie lagen hinter dem Hauptgebäude, dazwischen gedieh das Unkraut.
Friedrich Wilhelm Ritt wartete Tage, Wochen, Monate: auf Gerüchte, auf die Post, auf die Wachablösung, auf das Essen, auf den Pfarrer, auf die Begnadigung, auf den Henker. Jetzt hätte er ausgiebig Gelegenheit gehabt, zu erfassen, was sein Sohn Martin in der Todeszelle durchlitten hatte, die auf ein Wort des Vaters aufgesperrt worden wäre. Aber das Grauen nahm ihm die Einsicht, den Schauder vor der letzten Zeremonie, der man den Mann in der Rotjacke an einem der ersten Aprilmorgen des Jahres 1947 unterzog.
»Bible, pictures, covers!« rief der massive Sergeant, genannt Todesengel, am Vorabend. »Bibel, Bilder, Decken!«
Du wirst gehängt, hieß das. Morgen. Heute nacht kommst du in den Keller, und morgen früh liegst du im Reihengrab.
Unten darfst du mit den anderen sprechen, hieß das, die morgen mit dir zum Galgen müssen. Jetzt erlebst du noch ein Konzert im Todessaal, man bringt dir Essen, das der amerikanische Steuerzahler bezahlt; alles, was dein Magen verträgt, außer Alkohol. Während die Musiker spielen, sind schon die Gräber ausgehoben.
Sie hielten ihm den Mund zu. Sein Herz machte nicht mehr mit. Sie gaben ihm eine Spritze. Der Wahnsinn streifte ihn, aber der Psychiater hatte ihm die volle Zurechnungsfähigkeit bestätigt; er kam in den Keller, den Vorraum des Galgens, und sein Leben zählte noch neun grausame Stunden.
IX
Das junge Mädchen lag neben dem Mann, nackt und zufrieden. Eine kleine Melodie schwebte im Raum, weich, zärtlich. Auf dem niederen Glastisch flackerte die erschöpfte Kerze. Wenn der Wind mit der bunten Seidengardine spielte, strich rötlicher Schein über die gebräunte Haut Susannes, der den jugendlichen Körper verschattete und seine Formen konturierte.
Es roch nach Wachs, nach Rauch, nach Liebe. Der Mann beugte sich vor, um Susanne zu betrachten. In der letzten Stunde hatte sie ihm viele Gesichter gezeigt, aber ihre Augen waren immer bei ihm geblieben und glänzten bei Kerzenlicht wie Smaragde im Mondschein.
Felix Lessing griff nach der Flasche neben der Couch. Er hob sie vom Boden, trank den Whisky pur, lauwarm, ohne ein Glas zu benutzen. Gleichzeitig suchte er am Boden nach Zigaretten. In der Flamme des Feuerzeuges sah er wieder Susannes Gesicht. Es war klar, frisch. Die ovale Stirn wirkte klug. Der Mund war sparsam und unbeschrieben, das Kinn fest, doch nicht unweiblich.
»Hast du etwas gesagt?« fragte sie leise.
»Nein. Wolltest du etwas von mir hören?«
»Nein.« Er lachte, nahm die brennende Zigarette aus dem Mund und steckte sie ihr zwischen die Lippen. In der aufleuchtenden Glut sah sie sein Gesicht.
Felix war ein Mann, der Frauen gefiel. Er hatte alles, was im März 1947 zu einem homme à femme nötig war: ein gutes Gesicht, lässige Bewegungen, sichere Eleganz, Witz und Verve; dazu ein eigenes Haus mit friedensmäßiger Küche. Er gehörte als Offizier der amerikanischen Armee einer Siegernation an und war zudem ein wichtiger Mann der Militärregierung.
Susanne richtete sich auf, stützte sich auf beide Ellenbogen,