Hanussen - Hellseher und Scharlatan. Will Berthold
Will Berthold
Hannusen
SAGA Egmont
Hanussen - Hellseher und Scharlatan
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Will Berthold Nachlass,
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de).
Originally published 1987 by Lübbe Verlag, Germany.
All rights reserved
ISBN: 9788711727171
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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1
Die ganze Stadt ist aus dem Häuschen. Sonst ist in dem idyllischen Kurort mit den bis zu 46 Grad heißen alkalisch-salinisch-radioaktiven Quellen nicht viel los, aber heute macht die Sensation den Einheimischen wie ihren Gästen Beine.
Schon eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung muß der große Kursaal feuerpolizeilich geschlossen werden. Teplitz-Schönau, am Fuße des Erzgebirges gelegen, ist gewissermaßen nordböhmische Provinz, aber Erik-Jan Hanussen, der »größte Hellseher der Welt« – wie er sich auf schreienden Plakaten titulieren läßt –, ist auch in Wien, Budapest, Prag, Paris, Zürich, Stockholm, New York, Boston und Baltimore vor ausverkauften Häusern aufgetreten. Immer ohne größere Panne, wenn man von Budapest absieht, wo seine Wiener Assistentin Martha Farra überraschend zwischen zwei Vorstellungen mit einem ungarischen Magier nach Spanien durchgebrannt ist. Alles hann der große Hanussen offensichtlich nicht voraussehen, aber das bestreitet er auch gar nicht.
Er späht durch den Bühnenvorhang, ein untersetzter kräftiger Mann im Frack, der von einem ersten Maßschneider stammt, aber an dem Magier hängt, als hätte er ihn sich beim Kostümverleih ausgeborgt. Er ist nicht gerade häßlich, aber sein Aussehen sollte ihn davor bewahren, sich wie ein Adonis zu gebärden. Hanussen hat ein breites Gesicht, gescheitelte, glatte Haare, buschige Brauen über leicht hervorstehenden dunklen Augen, eine kräftige, weit vorspringende Nase und einen Mund, der auf herzhaften Appetit schließen läßt. Seinen Heißhunger beweist er bei jeder Gelegenheit; Adams Wahn auf Evas Spuren. Viele Frauen finden ihn zunächst einmal abstoßend, aber nicht wenige aus der Mehrzahl landen schließlich doch in seinem Bett.
»Schon seit zwei Tagen ausverkauft«, sagte der Journalist und Privatsekretär Adolf Erich Juhn.
Hanussen nickt gleichmütig; er hat es nicht anders erwartet. »Wir müssen vermutlich in der nächsten Woche noch eine Sondervorstellung in Teplitz-Schönau einschieben«, stellt der geschäftige wie geschäftstüchtige Helfer fest.
»Na also.«
»Das ist aber nicht so einfach«, erklärt der Privatsekretär. »Entweder ist der Kursaal schon vergeben, oder Sie müssen anderswo auftreten.«
»Das schaffst du schon«, versetzt der große Magier leichthin.
Auch diese Tournee durch Böhmen und Mähren ist längst auf dem Siegeszug. Der Erfolgreiche geht seine Zettel noch einmal durch, dann tastet er kennerisch die Reihen der Zuschauer ab, aus denen er seine Mitarbeiter rekrutieren wird. Ein buntgemischtes, gut herausgeputztes Publikum hat sich versammelt, Honoratioren aus Stadt und Umgebung neben großstädtischen Kurgästen; Herren, die ihre besseren Jahre bereits hinter sich haben, neben der jungen Zweit- oder Drittfrau, die noch kein Rheuma plagt.
Die Damen tragen die Haare wieder länger, dafür wurden die Röcke kürzer. Die Abendkleider zeigen am Rücken viel Haut. Das schöne Geschecht gibt sich selbstbewußt, aggressiv. Und die Garderobe der sogenannten guten Gesellschaft läßt erkennen, daß die Damen mit den Vergißmeinnichtaugen sich lieber aus- als anziehen. Der ›Uhu‹ – ein in Berlin erscheinendes Ullstein-Journal – behauptet, die Damenkleider seien neuerdings so beschaffen, daß ihre Trägerinnen nach sechs Bewegungen im Freien stünden, während ihre konservativen Begleiter mindestens an die hundert Knöpfe öffnen müßten.
Der große Magier nimmt mit den Augen Maß, gelassen, überlegen bis zur Arroganz. Der Klavierspieler versucht die Zeit bis zum Auftritt Hanussens zu überbrücken. Er haut in die Tasten und singt mit ungeschulter Stimme: »Mein Papagei frißt keine harten Eier.« Es regt keinen auf im Saal. Auch nicht der nächste Gassenhauer: »Ist denn kein Stuhl da für meine Hulda?« Vergeblich versucht der Klavierspieler sich Gehör zu verschaffen: »Das ist die Irma, die liebt die ganze Firma«, klimpert er, aber auch die Irma läßt die Anwesenden kalt.
Die zeitgemäßen Texte sind platt und albern. Im Jahre 1928 geben häufig noch immer Kriegsgewinnler, Bauspekulanten und Inflationsschieber den Ton an, der die Musik macht. Man lebt – ein Jahr vor dem großen Börsenkrach – in der ungefähren Mitte zwischen zwei Weltkriegen. Die schlimmsten Folgen des Ersten sind überwunden, daß ein zweiter, noch weit schrecklicherer bevorstehen wird, ahnt nicht einmal ein Hellseher.
Amüsement bestimmt weitgehend den Lebensinhalt. Die Zeitgenossen wollen sich lieber totlachen als einander totschießen. Obwohl die Berliner Polizei in der Silvesternacht halb so viele Betrunkene wie sonst auf den Straßen aufgelesen hat, sind die späten zwanziger Jahre alles andere als nüchtern.
Das Barometer der Wirtschaft steigt langsam, aber stetig nach oben. Auch Menschen, denen es noch immer schlechtgeht, leben jedenfalls besser als in den letzten Jahren.
Das Rahmenprogramm hat begonnen; es sind ein paar recht gute artistische Nummern dabei, aber die Resonanz bleibt dünn. Die Zuschauer sind wegen Hanussen gekommen. Sie wollen dabeisein, wenn einer in die Zukunft schaut, in dieses Niemandsland, auf das jeder setzen möchte, wiewohl es ihn doch ängstigt.
Der Pianist intoniert auf dem Klavier einen Tusch. Dann betritt, mit einer Viertelstunde Verspätung, der berühmtberüchtigte Hypnotiseur und Hellseher die Bühne. Schon auf halbem Weg wird der Applaus übermächtig, aber mit einer herrischen Handbewegung erstickt ihn der sonst so Beifallsüchtige, als wehre er sich bescheiden gegen Vorschußlorbeeren.
Ein paar launige Worte, ein paar erste Proben seines Könnens, es dauert nicht lange, bis der Mann auf der Bühne sein Publikum im Griff hält, ein selbstherrlicher Dompteur von kuriosem Selbstbewußtsein, mitunter laut, dann wieder leise, oft recht plump in der Ausdrucksform und dann gleich wieder pseudowissenschaftlich. Selbst Skeptiker schütteln den Kopf und spüren zunehmende Unsicherheit. Vielleicht werden sie düpiert, in jedem Fall aber auch fasziniert.
Der Hellseher mit dem dänischen Namen, dem tschechischen Paß und der sorgfältig im Dunkel gehaltenen Herkunft weiß offensichtlich alles und gibt es auch preis. Er geht an den Reihen der Zuschauer entlang, greift sich seine Opfer wie Fische aus einem Bottich. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, es handle sich um bezahlte Mitwirkende, zieht er mit Vorliebe unfreiwillige Akteure auf die Bühne, wie den bekannten Professor aus der vierten Reihe, einen gepflegten älteren Herrn mit einem Spitzbart, der gewohnt ist, vor einem Auditorium zu sprechen – nicht aber vor einem solchen.
»Ich erkenne Ihren Beruf«, sagt Hanussen. »Sie sind Professor an der Universität Prag,«
»Das stimmt.«
»Für Mathematik?«
Der Spitzbart nickt gezwungen.
»Wir haben alle unsere Probleme«, plaudert der Hellseher. »Ihres ist, daß Ihr einziger Sohn im Gymnasium nicht weitergekommen ist.« Nach einer kurzen Pause setzt er hinzu: »Nicht wahr, er ist sitzengeblieben.«
»Ich möchte schon bitten …«, protestiert der unwillige Mitwirkende mit zitterndem Spitzbart. »Das geht Sie doch nun wirklich