Cardiff am Meer. Joyce Carol Oates

Cardiff am Meer - Joyce Carol Oates


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      Joyce Carol Oates

       Cardiff am Meer

      Vier Erzählungen

      Aus dem Englischen von

      Ilka Schlüchtermann

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      Titel der Originalausgabe:

       Cardiff, by the Sea

      Copyright © 2020 by The Ontario Review

      First published in the United States of America in 2020

      by The Mysterious Press, an imprint of

      Grove Atlantic Inc.

      Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde

      im Rahmen des Programms »NEUSTART KULTUR«

      aus Mitteln der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien vom

      Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

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      Erste Auflage 2021

      © der deutschsprachigen Ausgabe

      Osburg Verlag Hamburg 2021

       www.osburgverlag.de

      Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

      des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

      durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

      Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

      (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

      ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

      oder unter Verwendung elektronischer Systeme

      verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

      Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg

      Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida

      Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

      Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

      ISBN 978-3-95510-242-5

      eISBN 978-3-95510-248-7

       Für Ernie Lepore

      Inhalt

       Cardiff am Meer

       Miao Dao

       Wie ein Geist: 1972

       Das Kind, das überlebte

Cardiff am Meer I.

      1.

      Am dunklen, stinkenden Ort unter dem Spülbecken. Hinter den Abflussrohren. Sie hat sich ganz klein gemacht, um in dieses Versteck hineinzupassen.

      Spinnwebfäden kleben an ihrer Haut. Ihre Augen tränennass. Zusammengekauert wie ein kleines Äffchen. Die angezogenen Knie fest mit den Armen umschlossen, an die schmale, flache Brust gedrückt.

      Ein kleines Mädchen, klein genug, um sich selbst zu retten. Klein genug, um in das Spinnennetz zu passen. Schlau genug, um zu wissen, dass sie nicht schreien darf.

      Nicht atmen darf. Damit niemand sie hört.

      Damit er sie nicht hört.

      Die Tür zu ihrem Versteck wird geöffnet, sie sieht die Füße eines Mannes, seine Beine. Sie sieht, und sieht nicht, das dunkle, nasse Glänzen an den Hosenbeinen. Sie hört, und hört nicht, sein schnelles, heißes Keuchen. Mit einem juchzenden, wilden Lachen beugt er sich hinunter, um zu ihr hineinzuspähen. Er hat sie entdeckt. Sein Gesicht hinter einem Schleier von Tränen. Sein Mund bewegt sich und spricht zu ihr, aber sie hört nichts, kein einziges Wort. Und dann wird die Tür wieder geschlossen und sie ist allein.

      Somit steht es fest. Im Spinnennetz darf sie weiterleben.

      2.

      Das Telefon klingelt. Unerwartet.

      Nicht ihr Handy, an das Clare (wahrscheinlich) ohne zu überlegen sofort drangegangen wäre, nein, das andere Telefon, das Festnetz, das nur noch selten klingelt.

      Sekunden, in denen man entscheiden muss: Drangehen?

      Sieht, dass ihr die Rufnummer unbekannt ist. Vermutet, dass der Anruf wohl Telefonwerbung ist.

      Doch an diesem regengepeitschten Morgen im April antwortet sie – sei es aus Neugier oder Einsamkeit oder Gedankenlosigkeit. »Ja? Hallo?«

      Dann der Schock.

      Anscheinend ist ein Fremder am anderen Ende, der sich ihr als Rechtsanwalt einer Kanzlei in Cardiff, im Bundesstaat Maine, vorstellt. Und sie darüber informiert, dass sie geerbt hat, von einer Person, deren Namen sie nie zuvor gehört hatte: »Maude Donegal aus Cardiff, Maine. Ihre Großmutter.«

      »Bitte? Bitte, wer?«

      »Maude Donegal – die Mutter Ihres Vaters. Sie ist im Alter von siebenundachtzig Jahren verstorben …«

      Nicht sicher, ob sie versteht, was sie da hört. Denkt, dass ihr vielleicht, nein, ganz sicher, jemand einen Streich spielt. Unwillkürlich möchte sie lachen.

      »Aber ich habe gar keine Großmutter mit diesem Namen. Ich kenne auch niemanden mit diesem Namen – wie sagten Sie, Douglas?«

      »Donegal.«

      Stille. Dann spricht die Stimme am anderen Ende weiter, körperlos und sachlich, wie die Stimme in einem Traum: »Donegal – das ist doch Ihr Geburtsname. Wussten Sie das nicht?«

      »Geburtsname! Aber – wo?«

      »Cardiff, Maine.«

      Clare hat noch nie von Cardiff in Maine gehört. Da ist sie sich ganz sicher.

      Hat den größten Teil ihres Lebens in Minnesota gelebt – zuerst in St. Paul, dann in Minneapolis. Sehr weit entfernt von Maine.

      In den letzten Jahren hat Clare in Chicago, Brooklyn, Philadelphia gewohnt, gegenwärtig lebt sie in Bryn Mawr. Noch immer ziemlich weit entfernt von Maine.

      »… noch Fragen?«

      »N-nein …«

      »Ich hoffe, ich habe Sie nicht beunruhigt, Miss Seidel.«

      Natürlich nicht! Sie haben nur gerade mein Lebensgefüge auseinandergerissen.

      Clare bedankt sich bei dem Rechtsanwalt. Das Gespräch ist beendet. Sie war zu verwirrt, um Lucius Fischer zu fragen, um was es sich bei dem Nachlass von Maude Donegal denn überhaupt handelte – Geld oder Eigentum oder was auch immer. Aber jetzt ist es ihr zu peinlich, deswegen noch einmal zurückzurufen.

      Er hatte sie nach ihrer Adresse gefragt. Er wird ihr per UPS ein Dokument schicken, sollte am nächsten Morgen bei ihr ankommen.

      Und er wird ihr auch, weil sie ihn darum gebeten hat, die Telefonnummern ihrer Donegal-Verwandtschaft aus Cardiff mitschicken. Wenn Clare nämlich einmal nach Cardiff käme, so hatten sie ihm gesagt, würde sie hoffentlich bei ihnen übernachten.

      Verwandte! Aber es sind doch Fremde für sie, und Clare kann sich nicht vorstellen, bei Fremden zu übernachten.

      Sie liebt ihr Alleinsein,


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