Cardiff am Meer. Joyce Carol Oates

Cardiff am Meer - Joyce Carol Oates


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Maine wird sie ein neues Projekt zum Leben erwecken. Vielleicht.

      Erbin. Anwesen. Großmutter – Donegal. Die tiefe Baritonstimme des Rechtsanwalts aus Cardiff hallt verlockend in ihren Ohren.

      Clare wünschte, sie könnte diese guten Nachrichten mit jemandem teilen. Aber es gibt keinen richtig guten Freund hier in Bryn Mawr. Sie war immer sehr zurückhaltend in Gesprächen über ihr Privatleben, selbst bei einem Liebhaber. Ganz besonders bei einem Liebhaber.

      In der Vertrautheit gibt man viel von sich preis – zu viel. Nackt sind wir leicht verwundbar. Wenn ein Geheimnis einmal preisgegeben ist, kann es nie mehr zurückgerufen werden.

      Und: Clare hat bisher niemandem verraten, dass sie adoptiert wurde. Das ist ihr Geheimnis. Und deshalb kann sie jetzt auch niemandem erzählen, wie glücklich sie darüber ist, Erbin zu sein.

      Der Beweis dafür, dass sich jemand um sie gesorgt hat. Eine Großmutter.

       Aber warum hat sie so lange damit gewartet, sich zu dir zu bekennen, Clare? – diese Großmutter, deine Großmutter …

       Und was ist mit deinen (leiblichen) Eltern? Leben sie noch? Wirst du versuchen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen?

      Fragen, die Clare gar nicht hören möchte. Hat keine Antworten.

      Versucht, sich auf den Bildschirm zu konzentrieren. Scrollt durch eine Website, die Winslow Homer aus Maine gewidmet ist. Immer wieder abgelenkt von wilden Gedankensprüngen …

       In ein oder zwei Tagen triffst du sie vielleicht. Was wird dich in Cardiff erwarten?

      Clare hat versucht, nicht an sie zu denken – Mutter, Vater. Nicht einmal als Kind hat sie das getan. Nahm an, dass keiner der beiden noch lebte, denn warum sonst wäre ihre Tochter im Alter von zwei Jahren und neun Monaten in fremde Hände gegeben worden?

      Niemand hätte so etwas aus freien Stücken getan. Ein junges Mädchen oder eine unverheiratete Frau mag aus Verzweiflung einen Säugling abgeben, aber ein Kleinkind ist etwas vollkommen anderes.

      Na ja, vielleicht bist du verkauft worden. Zum einen wollten sie dich nicht und zum anderen wollten sie auch noch Geld mit dir machen.

      Unmöglich. Lächerlich! Niemals würde Clare so etwas glauben.

      Vor allem jetzt nicht mehr, wo sie erfahren hat, dass die Mutter ihres Vaters ein Anwesen hinterlassen hat, dass die Donegals also keineswegs verarmt waren …

      Als Kind hat Clare andere Kinder kennengelernt, die adoptiert waren. In der Mittelstufe, Oberstufe. Erstaunt war sie darüber, dass man solch eine Privatangelegenheit, solch eine beschämende Tatsache anderen anvertraut. Eine ihrer Zimmernachbarinnen im College war besessen davon, am Rande der Verzweiflung, ihre biologische Mutter ausfindig zu machen. (Clare hatte sie nicht darin bestärkt, diese Suche auf sich zu nehmen, und sie auch nicht groß bemitleidet, als sich diese geheimnisvolle, leibliche Mutter als große Enttäuschung entpuppte.) Selbst diesen Mädchen hatte Clare sich nicht zu erkennen gegeben. Sie hatte nie die Mühe auf sich genommen, den Rechtsweg zu beschreiten, um ihre biologischen, ihre leiblichen Eltern aufzuspüren.

      Wenn man adoptiert wurde, sollte man nie die Frage nach dem Warum stellen.

      Die Erkenntnis, dass man adoptiert wurde, ist die Antwort auf jede Frage, die man sich über seine Adoption stellen mag.

      Das Telefon klingelt! – dieses Mal checkt Clare die Rufnummer, bevor sie überhastet das Gespräch annimmt.

      Sieht erschrocken, dass ein Freund anruft – ein guter Freund, (noch) kein Liebhaber, aber (ziemlich wahrscheinlich) eine Aussicht auf eine Romanze –, mit dem sie, wie ihr jetzt wieder einfällt, an diesem Abend in Philadelphia essen gehen wollte. Dieser Freund ist ein Postdoc-Kollege in ihrem Institut, den seine Forschungsstudien an die Free Library of Philadelphia verschlagen haben. Noch gestern hatte Clare sich sehr auf diesen Abend gefreut und wäre sehr enttäuscht gewesen, hätte er abgesagt; jetzt ist dies alles vergessen, und sie muss sich eine plausible Entschuldigung einfallen lassen, warum sie ihn nicht im Restaurant treffen kann.

      Tut mir wirklich leid, Joshua! Ich hatte gehofft, ich könnte dich noch schnell anrufen – aber – es gab einen Notfall – in der Familie – ich bin jetzt wohl eine Zeit lang weg, nicht zu ändern.

      _______________

      1»Hope« is the thing with feathers – / That perches in the soul – / And sings the tune without the words – / And never stops – at all – // (The Poems of Emily Dickinson Edited by R. W. Franklin. Harvard University Press, 1999). – Hoffnung ist das Federding, / das in der Seele wohnt, / das Lieder ohne Worte singt / und niemals müde wird.

      3.

      Ihr eigenes Ich konnte stets leicht beschrieben werden – adoptiert.

      Ein unbeschriebenes Blatt. Reingewaschen. Keine Erinnerung.

      Sehr jung, noch nicht mal drei, als sie von einem (kinderlosen, älteren) Ehepaar mit Namen Seidel aus St. Paul adoptiert wurde.

      Das war alles, was sie über diesen Lebensabschnitt wissen musste: Sie war als kleines Kind adoptiert worden. Das war alles, was sie wissen wollte.

      Eine Tabula rasa ist das: die Adoption.

      Ihre (Adoptiv-)Eltern hatten ihr gesagt, dass ihr Geburtsname Clare war – dass sie als Clare Ellen in ihr Leben kam, mit diesem »so entzückenden« Namen, dass sie keinerlei Grund gesehen hatten, ihr einen anderen zu geben, nur mussten sie (offiziell, natürlich) ihren Nachnamen ändern, wenn sie jetzt ihr kleines Mädchen war.

      Es geht um Eigentum, Besitz. Ein Kind wird einem Erwachsenen oder zwei Erwachsenen überlassen – überlassen durch die Geburt, manchmal auch durch eine Agentur.

      Vielleicht hat sie ja diesen Namen – Donegal – in ihrer Geburtsurkunde gesehen. Vor langer, langer Zeit, hat aber keinen großen Eindruck bei ihr hinterlassen, sie kann sich (wirklich) nicht daran erinnern.

      Jede Adoption ist ein großes Rätsel – Warum?

       Warum gab man mich auf, gab man mich weg? Warum war ich unerwünscht?

       Von wem war ich unerwünscht?

      Doch Clare Seidel war und ist die perfekte (Adoptiv-)Tochter. Clare fragte und fragt nicht.

      Ein dankbares Kind fragt nicht nach dem Warum.

      Die Seidels waren schon älter. Hätten die Großeltern dieses adoptierten Kindes sein können. Beide waren Lehrer aus Berufung – Pädagogen. Im Laufe ihrer siebzehnjährigen Ehe hatten sie keine Kinder bekommen, obwohl (wie Clare schlussfolgerte) sie es versucht hatten. Kurz bevor sie Clare adoptierten, war der geliebte Hund der Seidels gestorben. Clare hat Bilder von diesem ungestümen Airedaleterrier gesehen, Seite an Seite mit Herrchen und Frauchen, die ihn offensichtlich vergötterten. Das hatte ihr einen tiefen Stoß versetzt: Eifersucht, Angst. (Wenn der Airedale nicht mit zwölf Jahren gestorben wäre, so wie es eben damals geschehen war, würde diese Person, diese Clare Seidel, dann überhaupt existieren?) Die Seidels hatten es nicht akzeptieren wollen, dass das Leben sie betrogen hatte. Sie hatten doppeltes Einkommen, zwei Autos, ein Haus mit angemessener Hypothek. In jedem August mieteten sie für zwei Wochen ein Cottage am Lake Superior. Sie waren dankbar dafür, dieses Waisenkind – Clare – zu haben, denn Clare würde später auch dankbar dafür sein, sie zu haben.

      Verletze Dads Gefühle nicht! Er darf nicht den Eindruck bekommen, er wäre nicht dein Dad, denn er ist es doch.

      Es gibt keinen anderen Dad und keine andere Mom für dich. Es gibt – nur uns.

      Instinktiv begriff Clare. Sie verstand. Sie war ihr (angenommenes) kleines Mädchen, das niemals nach dem Warum fragte.

      Ein (angenommenes) Kind fragt niemals, Warum wolltet ihr gerade mich?

       Konntet ihr keine eigenen Kinder haben, und darum habt ihr mich angenommen?


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