Cardiff am Meer. Joyce Carol Oates

Cardiff am Meer - Joyce Carol Oates


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ihrer Großtanten anzunehmen, damit sie den alten Damen zeigen kann, wie dankbar sie für ihre Gastfreundschaft, für ihre Liebenswürdigkeit ist. Es ist nicht so, dass sie die beiden nicht mag, und sie hat auch keine Angst vor ihnen – das wäre ja absurd.

      Doch dann bemerkt sie, wie sich die Rosinen in dem grauen, zähflüssigen Porridge in ihrer Schüssel hin und her bewegen.

      »Sie mag deinen Porridge nicht, Morag!«, ruft die Großtante mit den orangefarbenen Haaren.

      »Sie mag deinen Porridge nicht, Elspeth!«, ruft die Großtante mit der verbogenen Wirbelsäule.

      Verwirrt verstärkt Clare den Griff um ihren Babylöffel. Natürlich bewegen sich die Rosinen in ihrer Schüssel nicht. Hafergrütze mit einem Schuss heißer Milch ist ihr Lieblingsfrühstück.

      »Jetzt hast du unsere liebe Nichte in Verlegenheit gebracht – sie denkt, sie muss das essen

      »Ah ja, natürlich muss sie essen. Sie ist ein junges Mädchen, das noch wächst – und junge Mädchen müssen essen

      Während Clare sich bemüht, den angelaufenen silbernen Babylöffel zum Mund zu führen, zu kauen, einen zähen Brocken Porridge herunterzuschlucken und dabei die Rosinen zu vermeiden, schweben die Großtanten dicht über ihr, mit Geplapper und Geflatter. Steckt da irgendetwas Finsteres, Unheimliches dahinter oder sind sie einfach nur besorgt um Clare, fasziniert von ihr, so wie man (sehr wohl) von einem Fremden fasziniert ist, der in Gestalt eines Familienangehörigen plötzlich aufkreuzt? – ein direkter Erbe?

      Clare hat sich eine entscheidende Frage überlegt, die sie den Großtanten stellen will: Warum wurde sie zur Adoption weggegeben, wenn doch die Familie Donegal so gut betucht ist? Hat keiner aus der Familie sie gewollt?

      Nur – wie soll sie es wagen, solch eine Frage zu stellen? Ihre Stimme bricht, als sie beginnt. Im Hals ein dicker Kloß.

      Dieser verdammte Porridge ist so zäh wie Karamellbonbons! Heiße Milch reinzuschütten macht die Sache kaum besser.

      »Ist es zu heiß, Liebes? Oder –«

      »Nicht heiß genug?«

      Die Fürsorglichkeit der Schwestern scheint echt. Clare fragt sich, ob sie je zuvor in ihrem Leben einen Gast im Haus hatten.

      Elspeth trägt einen graubraunen, seidenen Morgenmantel mit weiter Schärpe. Er erinnert an irgendeine antiquierte Art von Ballkleid oder Festtagstracht; das Oberteil des Mantels gleitet auf sonderliche Art und Weise auf, wenn sie sich gedankenlos bewegt und legt ein knochiges Dekolleté frei. Dazu hat Elspeth ihr Gesicht so großzügig gepudert, dass sie einem gespenstischen Clown gleicht; ihre bogenförmigen Augenbrauen, die auf Clare am Abend zuvor noch prachtvoll gewirkt hatten, sind heute Morgen zittrig korrigiert, genauso wie der rotorange Lippenstift mit zittriger Hand geführt wurde. Morag, mit Mopsgesicht und plump-gedrungenem Körper und zerzaustem, ungekämmtem Haar, trägt, wie es scheint, einen bequemen Flanellpyjama unter einem Morgenmantel aus grobem Stoff, so wie Jeansstoff. Ihre Augen ruhen vergnügt, etwas schadenfroh, auf Clare.

      »Wir mögen unseren Porridge nicht«, sagt Morag verschmitzt. »Ist wohl nicht von der Qualität, wie man ihn im Ritz serviert bekommt.«

      »Na ja, er würde unserem Gast besser schmecken, wenn er wenigstens heiß genug wäre. Irgendjemand hat ihn kalt werden lassen, sodass er jetzt fest ist …«

      »Irgendjemand hat die Flamme am Herd ausgeschaltet.«

      »Irgendjemand muss ja wachsam sein, sonst kommt die Feuerwehr hier die Straße hochgebraust – wieder einmal.«

      Clare lächelt unsicher. Sie hat den Haferbrei aufgegeben, hält aber weiterhin den zierlichen Löffel in der Hand, damit ihre betagten Verwandten nicht argwöhnen, sie möge ihr aufwändig zubereitetes Essen nicht.

      Jetzt hat sie Zeit, die vierte Person im Raum zu betrachten: ein Mann – von unbestimmbarem Alter –, weder alt noch jung, weder lächelnd noch missbilligend, sowohl Clare als auch den plappernden Großtanten gegenüber gleichmütig, desinteressiert, die Ellbogen auf den Tisch gestützt und vornübergebeugt, einen Löffel in der linken Hand, während die rechte auf der Tischplatte ruht, Finger steif wie Klauen.

      Verwunderlich. Diese Person, ein Fremder, kommt Clare irgendwie vertraut vor – seine Züge erinnern an ihre eigenen, indirekt: irgendetwas an der Stellung der Augen oder die Nase …

      Er hat einen ausgeprägten spitzen Haaransatz, dunkles, mit grauen Strähnen durchsetztes Haar, ein scharfkantiges Gesicht. Nicht sehr freundlich. Doch beobachtet Clare durch seine halb geschlossenen Augen, heimlich. Neben seiner Porridge-Schüssel, eine längsgefaltete Zeitung.

      Beunruhigend, denkt Clare, diese Person hat so viel Ähnlichkeit mit ihr, wie ein enger Verwandter, aber je länger sie ihn betrachtet, desto unsicherer wird sie, ob sie sich das nicht alles nur einbildet.

      Er hat eine raue, narbige, gräuliche Haut. Sie hat eine sehr helle, sehr glatte Haut.

      Er ist missmutig, kleinlich. Sie lächelt viel, schmeichelt gern.

      Es scheint, als ob Essen für diesen Mann eine große Herausforderung darstellt, denn Clare hat bemerkt, dass er seinen Löffel sehr seltsam mit den Fingern der linken Hand hält, die Großtanten ihm allerdings, vor lauter Angst, ihn zu belästigen, gar keine Hilfe anbieten.

      Nervenschäden, denkt Clare mit einem Anflug von Mitleid. Und vielleicht auch Gehirnschäden. Sie erkennt einen steinernen, ausdruckslosen Blick in seinen Augen.

      »Gerard, mein Lieber! Dies ist eine Nichte von dir – Clare –«

      »– eine Nichte, die du noch nicht kennst, mein Lieber. Die wir alle noch nicht kennen – eine große Überraschung …«

      Gerard schaut Clare missbilligend an, ohne sie überhaupt richtig zur Kenntnis zu nehmen. Sie ist ein Eindringling, so scheint es; stört sein Frühstück und seine Zeitungslektüre. Er nickt ihr widerwillig zu, murmelt etwas, was Hallo heißen könnte. Oder auch nur ein dunkles Murren war – mh.

      »Clare, Liebes, – das ist unser Neffe Gerard, der hier im Haus wohnt – mit uns zusammen –, seit seine Mutter verstorben ist –«

      »Der jüngere Bruder deines Vaters, Clare –«

      »Nein. Gerard war älter –«

      »Nein, war er nicht. Er war jünger …«

      »Jünger als Conor – zu jener Zeit. Aber jetzt ist Gerard älter.«

      »Na ja, er ist älter geworden. Jedes Jahr, älter geworden.«

      »Genau das habe ich doch gesagt! Jedes Jahr, älter

      Gerard ist ein magerer Wolfshund, mit eingefallen Wangen, immer auf der Hut, jemand, dem unbehaglich wird, wenn man über ihn redet, als wäre er nicht anwesend. Sein Gesichtsausdruck erinnert an den in Kummer und Qual im siebzehnten Jahrhundert von Alessandro Casolani in Öl festgehaltenen Märtyrer St. Bartholomäus. Clare denkt sich, dass die betagten Großtanten mit ihrem Geplänkel – unter dem Vorwand, freundlich und beschützend sein zu wollen – absichtlich die Geduld ihres Neffen auf die Probe stellen wollen.

      »– und trotzdem, du weißt es genauso gut wie ich – Gerard ist nicht alt. Gerard ist –«

      »– für uns, immer noch ein Junge.«

      Irgendetwas an Gerard scheint entstellt, denkt Clare. Sie ist irritiert davon, dass seine Augen so große Ähnlichkeit mit ihren eigenen haben, sie liegen aber tiefer in den Höhlen, von Schatten umrandet. An seinem Kinn sprießen dünne Haare, und seine Wangen zeigen winzige, matt glänzende Blutspuren, so als ob er sich in Eile oder sehr unvorsichtig rasiert hätte. Sein linkes Ohr sieht geschunden aus, beide Ohren sind gerötet. Er trägt zusammengewürfelte Kleidung, eine braune, lockere Tweedjacke, ein schwarzes T-Shirt, Cordhosen. Die Tweedjacke ist alt und an den Ellbogen durchgescheuert, doch ganz offensichtlich aus hochwertiger Wolle; das schwarze T-Shirt verleiht ihm ein salopp priesterliches Aussehen.

      »Hallo!


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