Das Schweigen der Aare. André Schmutz

Das Schweigen der Aare - André Schmutz


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eine Horde Gaffer und Schaulustige zu treffen. Erfahrungsgemäß hätte er dann eine halbe Stunde gebraucht, um das sensationsgierige Pack aus dem ermittlungstechnisch gesperrten Bereich zu schaffen. Er wäre mit den Nerven bereits am Ende gewesen, bevor die Ermittlungen überhaupt losgingen.

      Zwar waren keine Sensationshungrigen hier, dafür aber Siegenthaler. Dieser trotzköpfige Rentner hatte Trachsel auf der Wache so lange drangsaliert, bis dieser einwilligte, dass Siegenthaler mit zur Spurensicherung kommen durfte.

      »Schließlich habe ich die Leiche entdeckt, und nur ich weiß, wo sich diese ganz genau befindet«, meinte Siegenthaler.

      Möglicherweise wird der Tag doch nicht so toll werden, ging es Trachsel durch den Kopf. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er nicht, dass er diesen Novembertag nie mehr vergessen würde.

      Trachsel hatte schon viele Selbstmörder unterhalb einer der schönen Brücken Berns einsammeln müssen. Der Anblick der meistens schrecklich entstellten Körper machte ihm schon lange nichts mehr aus. Er war es gewohnt. Routine.

      Etwas an dieser Frauenleiche war anders als bei all den anderen zerschmetterten Körpern. Trachsel konnte aber nicht sagen, was dies war. Tief in seinem Inneren war eine Stimme, die ihm einen Hinweis geben wollte. Er konnte sie nicht verstehen. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass dieser unmögliche Siegenthaler wie eine Musikspieldose unaufhörlich neben ihm quasselte. Am liebsten hätte er ihm den Hals umgedreht.

      »Hallo, Werner, ich hätte nicht gedacht, dass du im November schon morgens um 8 Uhr an der Aare bist. Aus dir wird noch ein richtiger Morgenjogger.« Abrupt wurde Trachsel aus seinen Tagträumen gerissen. Max Mäusezahl war Mitarbeiter im Dezernat Leib und Leben und dort zuständig für Spurensicherungen. Er liebte es, seinen als argen Morgenmuffel bekannten Chef zur Weißglut zu bringen.

      »Dir würde ein bisschen Bewegung auch guttun. Wenn du weiter so zulegst, werden wir auf der Wache schon bald breitere Türen einbauen müssen«, konterte Trachsel.

      »Ein Wärmepolster für den kommenden Winter hat noch nie geschadet.«

      »Die eigenen Fitness- und Essgewohnheiten scheinen die Herren mehr zu interessieren als die hier am Boden liegende Leiche«, meldete sich Siegenthaler.

      Mäusezahl und Trachsel blickten sich kurz an, beide schwiegen. Keine Viertelstunde später war die Identität der Leiche geklärt. Die junge Frau hiess Siri Manaresi. Sie war 21 Jahre alt, eingebürgerte Italo-Schwedin und lebte zusammen mit ihrer um zwei Jahre jüngeren Schwester Alva bei ihren Eltern im Altenbergquartier. Siri hatte an der Universität Bern Französische Literatur und Sportwissenschaften studiert. Ihre ältere Schwester Lisa war bereits ausgezogen und lebte alleine in einer Studiowohnung im Länggassquartier.

      Trachsel beschloss, direkt zu Fuß zum Altenbergrain zu gehen, um den Eltern von Siri die Todesbotschaft zu überbringen. Viel schlimmer als der Anblick von entstellten Leichen war das Überbringen einer Todesnachricht. Die Reaktion der Betroffenen war unberechenbar. Die schlimmste Erfahrung, welche Trachsel dabei gemacht hatte, lag knapp drei Jahre zurück. Er musste einem jung verheirateten Paar den Tod ihrer vierjährigen Tochter mitteilen, welche am Aargauerstalden mit dem Fahrrad gestürzt und von einem Touristenbus aus der Slowakei überrollt worden war. Die jungen Eltern waren komplett ausgeflippt. Sie hatten Trachsel, den Überbringer der schlechten Nachricht, in einem Hagel von Honig-, Senf- und Essiggurkengläsern aus der Wohnung geprügelt. Trachsel verbrachte im Anschluss zwei Tage im Universitätsspital Bern, wo ihm die Ärzte mehrere Schädelprellungen, eine gebrochene Nase und ein verletztes Auge behandeln mussten.

      Deshalb war es nicht verwunderlich, dass der Daumen ein bisschen zitterte, als Trachsel die Klingel bei Familie Manaresi betätigte. »Elin und Luca Manaresi« stand auf dem hübschen Schildchen neben dem Klingelknopf. Als sich kurz darauf die Tür öffnete, blickte Trachsel in das Gesicht einer attraktiven lächelnden Frau. Elin Manaresi hatte sich längst daran gewöhnt, dass Männer bei ihrem Anblick zuweilen komisch reagierten. Trotz ihrer mittlerweile 52 Jahre war Elin immer noch eine umwerfende nordische Schönheit. Ihre naturblonden schulterlangen Haare, die tiefblauen Augen, die feingeschnittene Nase und die kleinen Wangengrübchen, welche sie oft mit einem freundlichen Lächeln zur Schau stellte, machten sie auf Anhieb sympathisch. Ursprünglich stammte sie aus einer reichen Familie der schwedischen Oberschicht. Sie hatte in Stockholm Betriebswissenschaft studiert und arbeitete heute in Bern als Marketingverantwortliche für ein internationales Unternehmen.

      »Guten Tag, Frau Mana…resi«, stammelte Trachsel. »Entschuldigen Sie die frühe Störung. Darf ich kurz hereinkommen? Ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie.«

      »Ich weiß«, antwortete Elin. »Sie kommen wegen Siri, nicht wahr?«

      Für einen Moment war Trachsel konsterniert, hatte sich aber rasch wieder gefangen.

      »Ja, ich komme wegen Ihrer Tochter Siri. Man hat ihren Körper heute Morgen am Dalmaziquai unterhalb der Kirchenfeldbrücke gefunden. Tot.«

      Elin Manaresi nahm die Worte völlig gefasst auf. Schweigen. Nach ein paar endlosen Momenten konnte Trachsel ein leises Nicken feststellen und sah, wie sich Elins Augen langsam mit Tränen füllten.

      »Siri hat sich das Leben genommen. Hat sie sich von der Kirchenfeldbrücke gestürzt?«, fragte Elin.

      »Alle Indizien deuten darauf hin«, entgegnete Trachsel.

      »Dann war es doch nicht nur ein schlechter Scherz …«, murmelte Elin abwesend und blickte an Trachsel vorbei direkt in die giftgrüne Aare.

      Kapitel 2

      Bern, Länggassquartier, 15. November 2019, 07:20

      Das Schrillen des Weckers traf Lisa in tiefstem Schlaf. Üblicherweise war der Wecker bloß Dekoration. Lisa Manaresi erwachte regelmäßig kurz vor 7.15 Uhr und stellte den verhassten Wecker aus, bevor ihr dieser mit seinem zornigen Läuten den Tag vermiesen konnte. Es war ohnehin eine unruhige Nacht gewesen. Lisa war gegen Morgen zweimal kurz hintereinander aus dem Schlaf aufgeschreckt, unmittelbar danach aber wieder eingeschlafen. Sie konnte sich weder an einen Traum und schon gar nicht an einen Albtraum erinnern. Am Vorabend hatte sie weder zu viel getrunken noch etwas Schweres gegessen. Seltsam. Lisa war für ihren Murmeltierschlaf bekannt.

      Es war gegen 8.30 Uhr als sich Lisa nach einem starken Espresso auf ihr Fahrrad schwang und Richtung Innenstadt auf den Weg zur Arbeit machte. Die nächtliche Episode war bereits wieder vergessen.

      Lisa war die älteste Tochter der Familie Manaresi. Sie war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Deshalb konnte sie richtig hartnäckig, manchmal auch stur sein. Daneben besaß sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und einen trockenen Humor. Lisa hatte viel vom Aussehen ihrer Mutter geerbt. Einzig die Haare waren nicht blond, sondern dunkelbraun, fast schwarz. Diese Erbschaft kam zweifellos aus Italien. Ihre große Schwäche – vermutlich auch ein Erbe ihres Vaters – war italienisches Essen. Etwa seit ihrem 20. Geburtstag machten sich die Genüsse aus Bella Italia bemerkbar. Lisa brachte ein paar Pfunde zu viel auf die Waage. Für viele ihrer Freunde machte sie dies nur umso sympathischer und attraktiver.

      An der Universität Freiburg hatte Lisa Kommunikationswissenschaften und Geschichte studiert und vor einem halben Jahr mit dem Master abgeschlossen. Sie arbeitete seit etwas mehr als vier Monaten als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kriminalpolizei Bern. Lisa untersuchte zusammen mit einem kleinen Team von Spezialisten den Zusammenhang zwischen Betäubungsmittelmissbrauch und dem Begehen von Straftaten.

      Als Lisa gegen 8.45 Uhr auf der Wache am Waisenhausplatz eintraf, spürte sie sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihr Verdacht wurde bestätigt, als sie in ihr Büro trat. Thomas Zigerli, ihr Teamkollege, mit welchem sie auch ihr Büro teilte, wartete bereits ungeduldig auf sie.

      »Lisa, Lisa, du sollst dich sofort bei Trachsel melden. Er war vor ein paar Minuten hier und zeigte sich total aufgeregt.«

      »Ich muss zuerst rasch eine E-Mail schreiben. Ich werde im Anschluss zu ihm gehen.«

      »Er hat aber so ausgesehen, als ob es echt dringend wäre.«

      »So dringend, dass es nicht zehn Minuten warten


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