Das Schweigen der Aare. André Schmutz

Das Schweigen der Aare - André Schmutz


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Gedacht, getan. 15 Minuten später inspizierte die bereits bis auf die Unterwäsche durchnässte Lisa den Abschnitt auf der Brücke, welcher für einen Absprung hätte infrage kommen können. Sie war erstaunt, wie breit das Fangnetz an jeder Stelle gespannt war. Es war unmöglich, direkt vom Brückengeländer über das Fangnetz in die Tiefe zu springen. Das heißt, man musste zuerst auf das Fangnetz springen, anschließend bis zu dessen Ende kraxeln und sich im Anschluss in die Tiefe stürzen. Nicht gerade die Selbstmordvariante »kurz und schmerzlos«. Da gab es in der Umgebung von Bern passendere Brücken.

      Lisa leuchtete nochmals das Fangnetz mit ihrer kleinen Taschenlampe ab. Vielleicht gab es irgendwo einen Hinweis, dass hier kürzlich jemand über das Netz gerobbt war. Nichts. Lisa beschloss, das Bad im Regen zu beenden und in ihre kleine warme Studiowohnung zurückzukehren. Grübelnd machte sie sich auf den Weg Richtung Innenstadt.

      Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ein dunkles Augenpaar interessiert ihre Nachforschungen beim Fangnetz beobachtet hatte. Die Gestalt, zu welcher das Augenpaar gehörte, folgte Lisa in ungefähr 50 Metern Abstand. Ahnungslos erreichte Lisa ihre Wohnung in der Länggasse. Der Unbekannte war ihr bis kurz vor die Wohnungstür gefolgt. Dann verschwand er zufrieden in der Dunkelheit.

      Kapitel 5

      Bern, Altenberg, 16. November 2019, 03:15

      Luca Manaresi war gerade wieder aus dem Tiefschlaf hochgeschreckt. Seit ungefähr drei Jahren war es aus mit seinem ansonsten sprichwörtlichen Schlaf des Gerechten. Sein ganzes Leben hatte der Vater von Lisa nie Schlafprobleme gehabt; weder in seiner Kindheit in Bologna noch während seiner Ausbildung in Schweden und schon gar nicht im beschaulichen Bern. Seit über 30 Jahren arbeitete Luca als Lastwagenchauffeur bei einer in Bern beheimateten Import-Export-Firma. Früher war er mindestens einmal pro Woche in seiner Heimat, der Emilia Romagna. Es ging um die Einfuhr von Parmesankäse, Rohschinken, italienischen Wurstwaren, Balsamico-Essig und Wein. Fiel der Transport einmal aus, gab es postwendend Katzenjammer in der Berner Gastroszene. Mittlerweile war Luca in erster Linie innerhalb der Schweiz unterwegs. Er kümmerte sich um die Belieferung von Restaurants und Spezereiläden.

      Zu Beginn kamen die Albträume einmal im Monat. Mittlerweile plagten ihn diese zwei- bis dreimal pro Woche. Das Perfide daran war, dass sich Luca nicht an den Inhalt der Träume erinnern konnte. Deshalb war es sehr schwierig, die Ursache für die bösen Träume zu finden. Niemand hatte ihm bisher helfen können. Sein Hausarzt hatte es nicht geschafft, die Neurologie am Inselspital auch nicht, ebenso wenig die bekannten Schlafforscher am Universitätsspital in Zürich. Man hatte zwar herausgefunden, dass bei Albträumen bestimmte Hirnareale besonders aktiv sind: die Inselrinde und der Gyrus cinguli. Luca waren Rinde und Gyrus einerlei. Er wollte lediglich, dass ihn die schlimmen Träume nicht jede zweite oder dritte Nacht quälten. Von den Ärzten stammte einzig die Hypothese, welche besagte, dass es womöglich ein traumatisches Ereignis in der Vergangenheit gab, welches Luca noch nicht richtig mit sich selbst verarbeitet hatte. Luca wollte davon nichts wissen.

      »Es gab kein Trauma. Basta!«

      Er beschloss aufzustehen und ein bisschen zu lesen. Eine halbe Stunde lesen half oft. Danach fand er meistens wieder seinen Schlaf. Deshalb schnappte er sich die Berner Zeitung vom Vortag, welche noch ungelesen auf dem Küchentisch lag.

      Morgen wird darin wahrscheinlich über den Suizid meiner Tochter berichtet, ging es ihm durch den Kopf.

      Der Gedanke verdarb Luca die Lust aufs Zeitunglesen. Dennoch blätterte er gelangweilt von Seite zu Seite. Ein Bild auf Seite fünf ließ ihn urplötzlich aus seinen trüben Gedanken hochschrecken. Mit einem Mal glaubte Luca sein Trauma zu kennen.

      Kapitel 6

      Bern, Waisenhausplatz, 16. November 2019, 15:05

      Trachsel dröhnte immer noch der Schädel. Aber das war es die Kabiswurst von gestern wert. Dabei war nicht die Wurst, sondern die sieben Halbe Aarebier schuld an seinen Kopfschmerzen.

      »Hallo Werner, ich habe hier bereits den Obduktionsbericht von der Kirchenfeldbrücken-Leiche. Schwere innere Verletzungen durch Sturz aus großer Höhe. Frakturen an oberen und unteren Extremitäten, offener Wadenbeinbruch rechts, Risse in Lunge, Leber, Milz, diverse Darmperforationen. Multiple Schädel-Hirn-Traumata. Tönt für mich nach der perfekten Beschreibung eines Kirchenfeldbrücken-Jumpers«, konstatierte Max Obermaier, seines Zeichens Oberwachtmeister bei der Kriminalpolizei Schrobenhausen in Bayern. Obermaier absolvierte aktuell seinen sechsmonatigen Austauschdienst bei der Kriminalpolizei Bern im Rahmen einer seit fünf Jahren bestehenden Zusammenarbeit.

      »Hallo, Max, du kennst dich ja bereits bestens aus mit den Brücken hier in Bern«, meinte Trachsel.

      »Das ist gar nicht so einfach. Es gibt dermaßen viele Brücken, und die haben auch noch komplizierte Namen. Lorrainebrücke – und das in Bern. Tönt nach Genf oder Lausanne. Dalmazibrücke – die würde ich eher in Kroatien suchen.«

      »Weißt du, Max, wir sind eben international hier in Bern. Weltoffen. Keine Hinterwäldler wie ihr in Bayern.«

      »Hör mir damit auf. Manchmal habe ich das Gefühl, ihr lebt hier immer noch im Mittelalter. Bayern ist da eine ganz andere Liga. Einzig im Fußball, da seid ihr auch toll. Ihr ward schon ein paar Mal Schweizer Meister, und einen coolen Namen hat eure Mannschaft. Young Boys. Ich gebe zu, das tönt echt modern.«

      »Wo du recht hast, hast du recht, Max. Steht denn sonst noch etwas Besonderes im Obduktionsbericht?«

      »Nein, einfach das Übliche Routineblabla.«

      »Gut, danke, dann schieb mir das Ding rüber. Ich werde das Papier heute Abend zusammen mit der Angehörigen­identifizierung unterschreiben.«

      »Die habe ich auch schon dabei. Familie Manaresi war kurz nach Mittag in der Rechtsmedizin und hat ihre Tochter identifiziert. Neben den Eltern war auch noch eine Schwester der Selbstmörderin mit dabei. Eine echte Schönheit, bei der könnte ich mich vergucken.«

      »Lieber Max, aus dem Alter solltest du raus sein. Die ist nichts für dich. Die steht bestimmt nicht auf 60-jährige Opas. Und ob sie deinen bayrischen biergestählten Schwabbelbauch sexy finden würde, ist auch nicht mit absoluter Sicherheit klar.«

      »Mach dich nur über mich lustig. Die junge Frau hat jedenfalls fast zehn Minuten mit mir geplaudert und mich sogar gefragt, ob ich denn von der Suizidthese überzeugt sei. Da konnte ich all mein kriminalistisches Know-how gründlich vor ihr ausbreiten. Glaub mir, die war super beeindruckt von meinem Wissen. Hat einfach nur zugehört und gestaunt.«

      »So, es reicht jetzt. Ich muss noch was tun. Also her mit den Schreiben, und dann wünsch ich dir was.«

      Leicht verschnupft verließ Obermaier das Büro des Kommissars. Trachsel seinerseits war bereits damit beschäftigt, die Unterschriftenseiten des Obduktionsberichtes und der Leichenidentifizierung zu suchen. Den Inhalt der Dokumente würdigte er keines Blickes. Hätte er dies getan, wäre ihm womöglich im Obduktionsbericht etwas Wichtiges aufgefallen. Vielleicht auch nicht.

      Kapitel 7

      Bern, Länggassquartier, 16. November 2019, 19:30

      Lisa saß bereits seit über einer Stunde an ihrem hübschen Küchentisch aus antikem Kirschholz. Der Tisch war einer der wenigen Luxusgegenstände, welche sich Lisa in ihrem Leben bis anhin gegönnt hatte. Sie hatte den Tisch von ihren Eltern zum Abschluss ihres Studiums geschenkt erhalten, nachdem sie diesen vorher wochenlang fast täglich im Schaufenster der Antikschreinerei Blaser in der Viktoriastraße angebetet hatte. Der Tisch hatte die Manaresis ein kleines Vermögen gekostet. Die Freude, welche Elin und Luca damit ihrer ältesten Tochter machen konnten, war es ihnen wert.

      Ein sanftes Klingeln an ihrer Wohnungstür löste sie aus ihren trüben Gedanken.

      Thomas, schoss es ihr durch den Kopf. Niemand sonst brachte es fertig, ihre wilde Türklingel zu zähmen und deren Töne nicht aggressiv klingen zu lassen. Die innere Ruhe, die Thomas besaß, schien sich auf die Klingel zu übertragen.

      »Hallo, Thomas, tut mir leid wegen


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