Das Schweigen der Aare. André Schmutz

Das Schweigen der Aare - André Schmutz


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Seine Zähne klapperten vor Kälte wie eine alte Druckerpresse. Das fahle Licht eines müden Mondes, das eisige Flusswasser und die kleinen braunen Büschel einer namenlosen Wasserpflanze, welche Zigerlis Jacke, Hosen und sogar sein Gesicht zierte, gaben eine unheimliche Szenerie ab.

      »Lassen wir es gut sein.« Endlich hatte Lisa ein Einsehen mit ihrem Kollegen. »Ich lade dich auf einen Kaffee oder Glühwein zu mir ein.«

      Es war schon fast Mitternacht, als sich Zigerli wieder besser fühlte. Vorausgegangen waren eine warme Dusche und zwei Tassen heißer Glühwein.

      Lisas Stimmung hingegen war auf dem Tiefpunkt. Im Keller. Im tiefsten Keller.

      Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie die vermeintlichen Treckingkleider von Zigerli zum Trocknen auslegte. Bald waren die nassen Kleidungsstücke auf diverse Stühle in der Wohnung verteilt. Einige der Textilien waren bereits wieder so gut wie trocken. Als sie die Jacke über eine Stuhllehne streifte, veränderte sich urplötzlich ihr Gesichtsausdruck.

      »Thomas, das Gestrüpp an deiner Jacke sieht irgendwie ähnlich aus wie die Algen, welche in Siris Haar gefunden wurden. Dieselbe braungelbe Farbe und die gleichen Fasern. Allerdings habe ich diejenigen von Siri nur auf Bildern gesehen.«

      »Ich weiß nicht. Ich hoffe einfach, dass mir der verdammte Algenmist nicht meine schönen Klamotten ruiniert hat«, ereiferte sich Zigerli.

      Lisa war bereits in die Küche geeilt und kam kurz darauf mit einem kleinen Einmachglas wieder zurück. Mit einer Pinzette zupfte sie vorsichtig etwas von dem Pflanzenmaterial von Zigerlis Kleidern. Sie hoffte sehnlichst, dass in der Rechtsmedizin noch etwas von der Algenprobe in Siris Haar vorhanden war, damit sie einen Vergleich der beiden Muster anstellen konnte.

      Würde sich herausstellen, dass die beiden Proben von ein und demselben Ort stammen?

      Es gab noch eine weitere Möglichkeit den aufkeimenden Verdacht zu erhärten. Dazu musste Lisa nochmals ans Schwarzwasser, noch einmal an Zigerlis nächtlichen Badeort. Ihr war klar, dass keine 20 Kamele Zigerli diese Nacht ein weiteres Mal nach draußen in die Kälte bringen würden. Ans idyllische Schwarzwasser schon gar nicht.

      »Solange ich nicht mitkommen muss, kannst du mit meinem roten Blitz hinfahren, wohin du willst.«

      Wenig später deponierte Lisa den auf der kurzen Autofahrt eingenickten Zigerli in seiner Junggesellenwohnung im Mattenhofquartier. Kurz vor 1.30 Uhr befand sich Lisa wieder beim beliebten Nachtbadeort am Schwarzwasser. Würde sie noch etwas Brauchbares finden? Inzwischen hatte auch der Mond sein karges Licht ausgeschaltet. Es war mittlerweile stockdunkel. Das Schwarzwasser machte seinem Namen alle Ehre. Vom kleinen Fluss war kaum etwas zu erkennen. Ohne das leise Plätschern und Glucksen des Wassers hätte man sich nicht an einem Fluss vermutet. Die Taschenlampe erzeugte zwar einen kräftigen Lichtstrahl, dieser konnte aber immer nur ein kleines Stückchen des Flussbetts ausleuchten. Endlich fand Lisa die Stelle, wo Zigerli kurz abgetaucht war. Es kostete sie eine anständige Portion Überwindung, selbst ins eisige Nass zu steigen. Zum Glück führte der Fluss nur wenig Wasser. Nach wenigen Augenblicken stieß sie auf die Hinweise, auf welche sie gehofft hatte. Neben den von Zigerli hinterlassenen Sturzspuren konnte Lisa deutlich andere Zeichen erkennen. Diese deuteten darauf hin, dass hier vor Kurzem etwas Großes und Schweres wahrscheinlich aus großer Höhe in den Fluss gefallen war. Steine im Flussbett waren verschoben. Auf anderen Steinen waren Teile des Algenbefalls abgerieben.

      Hydrurus foetidus, ging es Lisa durch den Kopf. Sollte dieses unappetitliche Flussgewächs am Ende der Schlüssel zum Rätsel um Siris Tod sein?

      In Lisas Kopf ratterten die Gehirnzellen auf Hochbetrieb, obwohl es mittlerweile fast 2 Uhr geworden war. Lisa war dermaßen mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie nicht bemerkte, wie ein Auto mit ausgeschalteten Scheinwerfern oben mitten auf der Brücke angehalten hatte. Eine hagere Gestalt beobachtete sie, seit sie unten am Fluss angekommen war. Als sich Lisa auf den Rückweg machte, schlich der Schatten leise fluchend zu seinem Fahrzeug. Dieses rollte kurz darauf lautlos und ohne Licht in die dunkle Nacht davon.

      Kapitel 9

      Bern, Länggassquartier, 18. November 2019, 07:30

      In Anbetracht der kurzen Nacht – Lisa war erst gegen 3 Uhr eingeschlafen – fühlte sie sich voller Energie. Sie kannte auch den Grund dafür. Lisa konnte es nicht erwarten, ihre Algenprobe mit derjenigen aus Siris Haaren zu vergleichen. Eigentlich eine Routineangelegenheit. Wenn man aber lediglich als Hobby-Ermittler an einem Fall arbeitete, stellten sich einem eine ganze Liste von beträchtlichen Hürden in den Weg.

      1.) Lisa hatte Dienst und musste in 30 Minuten an ihrem Arbeitsplatz am Waisenhausplatz sein.

      2.) Wer würde ihr in der Rechtsmedizin die Haarprobe von Siri aushändigen?

      3.) Wer konnte die Laboranalyse durchführen?

      Problem Nummer eins ließ sich mit einem Telefonat ins Dezernat und einer Notlüge einfach lösen. Problem Nummer zwei war da schon ein anderes Kaliber. Lisa konnte sich nicht im Traum vorstellen, dass ihr die kalbsnierensüchtige Rechtsmedizinerin die Probe aushändigte. Die Ärztin in die Ermittlungen miteinzubeziehen und sie zu bitten, gleich selber die Vergleichsanalyse zu machen, kam noch viel weniger infrage. Sackgasse.

      Lisa wollte sich gerade ihren Mantel schnappen und mangels Alternativen doch zur Arbeit gehen, als ihr Handy klingelte. Zigerli.

      »Hallo, Lisa. Hat sich dein zweiter Ausflug ins Schwarzwasserland gestern Nacht gelohnt? Oder hast du einfach die wunderbare Nachtstimmung am Fluss genossen?«

      »Spar dir deine müden Witze. Natürlich habe ich etwas Entscheidendes gefunden«, entgegnete Lisa beleidigt. In wenigen Worten berichtete sie Zigerli, was sie gestern Nacht am Schwarzwasser entdeckt hatte. Sie schloss mit der frustrierenden Aussage, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wie und von wem sie die beiden Algenproben miteinander vergleichen lassen konnte.

      »Nicht verzagen, Zigerli fragen«, hörte sie ihren Kumpel am anderen Ende der Leitung ungewohnt selbstbewusst. »Ein Freund, den ich aus unserer gemeinsamen kaufmännischen Ausbildung kenne, absolviert zurzeit eine Zweitlehre als Laborant. Und zwar in der Rechtsmedizin Bern. Vielleicht kann ich ihn überreden, die Analyse der beiden Proben durchzuführen – sofern er Zugang zu Siris Probe bekommt.«

      »Die Proben in der Rechtsmedizin stehen dort nicht einfach herum. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dort jeder Laborantenlehrling einfach bedienen kann«, zweifelte Lisa.

      »Sei doch nicht so pessimistisch. Timo, so heißt mein Kollege, ist mir noch einen Gefallen schuldig. Während unserer gemeinsamen Ausbildung wurde er nach einem Saufgelage an der Aare bei der Rückfahrt mit seiner Vespa beim Überfahren eines Rotlichts in der Berner Innenstadt geblitzt. Ich saß hinter ihm auf dem Roller. Timo hätte seinen Führerschein abgeben müssen, da er Rotlichter schon des Öfteren ignoriert hatte. Da ich in der Beziehung noch jungfräulich war, habe ich mich als Fahrer ausgegeben. Für mich setzte es lediglich eine saftige Buße ab. Timo hat diese gerne beglichen.«

      »Dann bin ich gespannt, was dein Timo drauf hat«, versuchte Lisa, den Ehrgeiz von Zigerli weiter anzustacheln. »Falls uns dein Kompagnon die Analysenresultate liefern kann, koche ich für euch beide Ragù alla Bolognese.« Zigerlis Leibspeise.

      Kompagnon Timo lieferte. Und erst noch speditiv. Am folgenden Nachmittag, es war am 18. November gegen 16 Uhr, streckte Zigerli sein nach Ragù alla Bolognese gelüstendes Haupt in ihr gemeinsames Büro. In seiner rechten Hand schwenkte er ein Dokument.

      »Voilà, Frau Oberkommissarin. Der Analysenbericht aus der Rechtsmedizin


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