Zorn der Lämmer. Daniel Wehnhardt

Zorn der Lämmer - Daniel Wehnhardt


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      Mit riesigen Schritten hetzte sie in den Wald. Suchte Schutz zwischen den Bäumen, während ihr Herz raste und sie am ganzen Körper zitterte. Hektisch atmete sie ein und aus, sodass Atemwolken aus ihrem Mund schossen und sich auflösten in der Nachtluft.

      Bei diesem Anblick kam Sarah auf eine Idee. Aber ob sie funktionierte? Sie musste es wenigstens versuchen. Den immer lauter werdenden Stimmen nach zu urteilen, blieben ihr nur noch wenige Minuten, bis die Soldaten wieder in ihrer unmittelbaren Nähe sein würden.

      Deshalb stieß Sarah ihre Hände in die Erde hinein und grub wie besessen in den Boden. Ihre Fingernägel rissen ein, Blut quoll hervor, aber sie machte weiter, bis vor ihren Augen Sterne tanzten.

      Dann plötzlich ein Schuss.

      Sarah schreckte hoch. Zusammen mit dem Knall schoss das Echo ihres Schreis durch den Wald. Von Baum zu Baum, bis herüber zu der Grube, aus der sie soeben erst entkommen war. Hatten die Deutschen sie etwa gehört?

      Das Knacken der Schritte wurde lauter, die Soldaten bewegten sich nun durchs Geäst auf sie zu. Keuchend rammte sie ihre blutigen Hände immer wieder in den Boden, bis sie endlich die erste Erdschicht abgetragen hatte. Dann legte sie sich in die Kuhle hinein und bedeckte ihren Körper in Windeseile mit Laub und Gestrüpp.

      Sarah schloss die Augen. In Gedanken sprach sie das Gebet, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte. Es war das einzige, das sie sich je gemerkt hatte.

      »Erhabener, es ströme Deine Barmherzigkeit und erbarme Dich über Dein Kind geliebtes. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, die Herrlichkeit Deiner Macht zu schauen! Dies ist das Sehnen meines Herzens: Erbarme Dich und verbirg Dich nicht!«

      Die Schritte kamen näher und näher.

      ERSTES BUCH –

      Die kultivierten Tage

      Zum wiederholten Mal fischte Vitka Kempner die Karte aus ihrer Tasche.

      So ein Mist, fluchte sie innerlich. Wie sollte sie auf diesem zerfleddernden Fetzen Papier überhaupt etwas erkennen?

      Immer wieder verglich sie die verwaschene Zeichnung mit der Landschaft vor ihren Augen und hielt verzweifelt Ausschau nach irgendeinem Anhaltspunkt. Nach irgendetwas, das ihr sagte, dass sie noch immer in die richtige Richtung ging. Doch dieses verfluchte Ding war einfach zu nichts zu gebrauchen. Vitka musste sich eingestehen, dass sie auf den verzweigten Wegen längst die Orientierung verloren hatte.

      Frustriert stopfte sie die Karte wieder zurück in ihre Tasche und fuhr sich durchs Gesicht. Wegen der Strapazen der letzten Monate war sie immer dünner geworden. Ihre Wangenknochen traten inzwischen deutlich unter ihrer blassen Haut hervor, und der lange Marsch, zu dem sie vor Stunden aufgebrochen war, zehrte zusätzlich an ihren Kräften.

      Trotzdem hatte Vitka immer noch keinen Hinweis auf ihr Ziel entdeckt. Hatte sie ihren Auftrag etwa unterschätzt? Die Warnungen der anderen hatte sie jedenfalls allem Anschein nach nicht ernst genug genommen.

      Vor zwei Wochen waren Mitglieder der Jungen Garde im Wald auf ein Mädchen gestoßen. Nackt, halb erfroren, der Körper übersät von blauen Flecken und getrocknetem Blut. Tagelang war das Mädchen umhergeirrt und hatte sich vor den Deutschen versteckt. Dass es den Klauen dieser Bestien tatsächlich entkommen war, erschien vielen in der linksgerichteten zionistischen Jugendorganisation wie ein Wunder.

      Doch das, was Sarah ihren Rettern anschließend berichtete, war noch viel dramatischer. So unvorstellbar, dass ihr niemand glauben wollte. Vor allem nicht Jakob Gens, der Chef der jüdischen Polizei, der sie für verrückt erklärte und sofort ins Krankenhaus bringen ließ.

      Noch am selben Abend berief die Junge Garde eine Versammlung ein. Auch Vitka nahm an dem Treffen im Ratskeller teil. Stolz akzeptierte sie den Auftrag, den die anderen ihr erteilten: Sie sollte zu Abba Kovner gehen. Ihr Anführer, der sich in einem Frauenkloster außerhalb der Stadt versteckt hielt, musste dringend von Sarah erfahren. Alle hofften, dass er schon wissen würde, was zu tun sei.

      Für ihre Mission war Vitka wie geschaffen. Ein polnisches Bauernmädchen wie sie, das nicht jüdisch aussah und auch keinen jiddischen Dialekt sprach, fiel bei den Deutschen nicht besonders auf. So war es der Jungen Garde erfolgreich gelungen, sie aus dem Getto zu schleusen und in einer Dachgeschosswohnung in einem Haus am Stadtrand unterzubringen. Vitka lebte dort zusammen mit ihrer Vermieterin, einer alten Dame, der sie im Haushalt half und deshalb keine Miete zahlte. Unbemerkt richtete sie in ihrem Zimmer ein kleines Lager ein, von wo aus sie regelmäßig Essen und Kleidung ins Getto schmuggelte. Denn dank ihrer Erscheinung war es für sie kein Problem, ungehindert durch das Tor in der Rudnitskaja-Straße zu gelangen. Durch das Tor, das für die Bewohner zugleich Anfang und Ende ihrer beengten, todbringenden Welt darstellte und durch das man in jenes Viertel gelangte, in das man die Juden im Mittelalter schon einmal eingesperrt hatte.

      Dieser düstere Gedanke holte Vitka zurück in die Gegenwart. Enttäuscht, dass sie offenbar an ihrer Mission gescheitert war, schaute sie hinauf zum Himmel. Der Mond war bereits aufgegangen und durch sein fades Licht wirkte die Landschaft wie gefroren. Bauernhöfe, Felder, Bäume – über der Welt, wie sie sich Vitka zeigte, lag tiefe, friedliche Stille. Kraftspendende Ruhe inmitten einer Zeit des Sterbens.

      Dann, als Vitka ihren Kopf wieder senkte und in die Ferne sah, erkannte sie plötzlich etwas. Wie ein Fingerzeig kletterte der Mondschein einen Hügel hinauf, der sich am Ende eines Feldwegs zum Himmel wölbte. War das etwa …? Viele in der Jungen Garde hätten wohl behauptet, dass dies ein Zeichen Gottes gewesen war.

      Obwohl Vitka nicht an derartige Phänomene glaubte, folgte sie dem Weg und erklomm so die Spitze des Hügels. Oben angekommen, schnappte sie nach Luft. Erschöpft von dem langen Marsch ließ sie ihren Blick über die Landschaft zu ihren Füßen schweifen.

      Jetzt endlich entdeckte sie es: Unrhythmisch flackernder Kerzenschein erhellte die Fenster des Dominikanerklosters. Schwaches, schummriges Licht, das einen zerbrechlichen Keil der Hoffnung in die Dunkelheit trieb.

      *

      Abba hockte im Schneidersitz auf seiner Matratze und blätterte in der Bibel.

      Obwohl er kein gläubiger Jude war, hatten die kämpferischen Passagen der Heiligen Schrift es ihm so angetan, dass er sie manchmal, wenn er in der entsprechenden Stimmung dafür war, regelrecht verschlang. Vor allem waren es die Geschichten über die jüdischen Armeen der Vergangenheit, die ihn so faszinierten. Erzählungen über mutige junge Männer, die durch die Wüste Palästinas marschiert waren und dabei schmerzliche Niederlagen erlitten, aber ebenso berauschende Siege gefeiert hatten. Männer, wie auch Abba einer sein wollte.

      Jedes Mal, wenn er diese Geschichten las, riefen sie ihm etwas in Erinnerung: sein Schicksal. Denn Abba war davon überzeugt, zu Höherem bestimmt zu sein. Nicht etwa durch Gott, wie viele ihm unterstellten. An dessen Existenz hegte Abba berechtigte Zweifel. Genauso wenig wusste er, was genau sein Schicksal für ihn bereithielt. Doch was auch immer es sein würde, er fühlte sich bereit dazu.

      Dann hörte er plötzlich ein zaghaftes Klopfen. Abba hob den Kopf und erkannte das Gesicht der Mutter Oberin. Anna Borkowska, wie sie mit bürgerlichem Namen hieß, hatte seine Tür einen Spaltbreit geöffnet und lugte in seine Kammer hinein.

      »Entschuldige die späte Störung«, flüsterte sie, »hier ist ein Mädchen, das dich unbedingt sprechen möchte.«

      Abba schenkte der Frau ein Lächeln und schob die Bibel unter seine Matratze. »Lass sie ruhig herein«, sagte er und richtete sich auf.

      Ihr, die von allen im Kloster nur »Mutter« genannt wurde, hatte Abba nichts Geringeres als sein Leben zu verdanken. Nachdem die lebhafte, heute fünfunddreißig Jahre junge Frau ihr Studium in Warschau beendet hatte, war sie in den Konvent in der Nähe von Kolonia Wilenska gegangen. Später, als die Deutschen in Litauen einmarschiert waren, hatte sie für Abba und sechzehn weitere Mitglieder der Jungen Garde die Tore ihres Stifts geöffnet. Hatte sie dort vor den Nazis versteckt, sie zur Tarnung in Trachten gehüllt und allesamt zum Arbeiten auf die Felder geschickt. Es hatte nicht lange gedauert, bis sich trotz der immensen Unterschiede zwischen den christlichen Schwestern und den


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