Zorn der Lämmer. Daniel Wehnhardt

Zorn der Lämmer - Daniel Wehnhardt


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der Straße. Wir haben Schreie gehört. Trillerpfeifen. Haben gehört, wie die Menschen davongerannt sind.« Sarahs Blick wirkte wie versteinert. »Plötzlich hat jemand die Tür eingetreten. Soldaten haben uns an den Haaren aus der Kammer gezerrt.«

      Wieder verfiel sie in nachdenkliches Schweigen, als ob die Erinnerungen an diesen Tag zu schwer wogen, um sie ohne Pause zu erzählen. Erneut wanderten ihre glasigen Augen haltlos durch das Zimmer. An dem speckigen Fenster, durch das man nach draußen auf den Innenhof sehen konnte, blieben sie haften. Beklemmende Stille erfasste den Raum.

      Nun ließ Abba sich achtsam auf der Matratze des Krankenbetts nieder. »Wohin haben sie euch gebracht?«

      »Sie haben uns zu einer Lichtung gefahren«, antwortete Sarah. Ihre Stimme klang noch brüchiger als zuvor. »Wir mussten uns ausziehen und unsere Sachen auf einen Haufen werfen.« Mit ihren Händen malte sie einen Berg in die Luft. »Dann haben sie uns in den Wald geführt, eine Gruppe nach der anderen. Wir haben Schüsse gehört. Zurückgekommen sind nur die Soldaten. Irgendwann sind wir an der Reihe gewesen.«

      Die Anwesenden lauschten Sarahs Bericht mit hängenden Köpfen und geschlossenen Augen. Nur Abba schaute von Zeit zu Zeit zu ihr hoch. Legte bedächtig seine Hand auf ihre Schulter oder streichelte ihr über den Kopf. Ruzka ertappte sich bei dem Gedanken, dass auch sie gerne seine Hände auf ihrem Körper gespürt hätte.

      In Etappen erzählte Sarah den Rest ihrer Geschichte. Davon, wie sie sich vor den Deutschen im Unterholz versteckt hatte. Wie sie tagelang durch den Nadelwald gekrochen war und dabei den Soldaten, die ihre Fährte aufgenommen hatten, immer wieder nur knapp entkommen war.

      Abba wirkte bestürzt. Ruzka beobachtete ihn von der Seite. Ob sich ihrem Anführer in diesem Augenblick dieselbe Erkenntnis aufgedrängt hatte? Dieses Massaker, dachte Ruzka, veränderte alles.

      *

      Wildes Geschrei erfüllte den Keller des Ratsgebäudes. Leipke Distel hielt sich die Ohren zu. Kopfschüttelnd beobachtete er das Schauspiel, das sich ihm vor seinen Augen bot. Er war der Einzige, der noch ruhig auf seinem Stuhl saß. Das Treffen der Jungen Garde, das Abba einberufen hatte, war völlig aus dem Ruder gelaufen.

      »Wo bist du so lange gewesen?«, fragten einige Mitglieder ihren Anführer.

      In der Tat hatte Abba sich eine Weile nicht blicken lassen. Dann war er plötzlich wie aus dem Nichts im Getto aufgetaucht. Viele waren erschrocken gewesen, als sie ihn wiedersahen, denn Abba hatte sich verändert. In seinen Augen lag nun ein kalter, unbeirrbarer Blick. Er trug schmutzige, zerlumpte Kleider und hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Ein seltenes Bild, das alle irritierte. Bisher war er doch dafür bekannt gewesen, großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres zu legen.

      Zu Leipkes Überraschung ging Abba jedoch auf keine der Fragen ein. »Wir müssen uns den Tatsachen stellen«, begann er stattdessen. Obwohl er mit tiefer und fester Stimme sprach, war im flackernden Kerzenschein, der das Gewölbe spärlich beleuchtete, das nervöse Zittern seiner Hände zu sehen. »Die Deutschen sagen, sie hätten unsere Familien und Freunde in den Osten umgesiedelt. Wie wir aber nun durch Sarah wissen, ist das eine Lüge. Sie haben sie alle in den Wald nach Ponary gebracht.« Indem er einzelnen Zuhörern einen Moment lang tief in die Augen sah, verlieh er seinen folgenden Worten noch mehr Gewicht. »Sie haben sie nur aus einem Grund dort hingebracht: um sie alle zu erschießen.«

      Ungläubig wanderten die Blicke der Mitglieder durch den Kellerraum. Selbst für Leipke, dessen Eltern im Rahmen der Umsiedlungsaktion ebenfalls mitten in der Nacht abgeholt worden waren, klang das unvorstellbar. Warum sollten die Deutschen so etwas tun? Schließlich waren es doch die Juden, die ihnen als Zwangsarbeiter in den kriegswichtigen Fabriken dienten. Für Leipke ergab das keinen Sinn.

      Abba ging noch einen Schritt weiter. Er fragte in die Runde: »Wisst ihr, was ich dadurch verstanden habe? Dass das nur der Anfang ist.« Er stemmte die Hände in die Hüften. »Einen anderen Schluss lassen Sarahs Erzählungen nicht zu. Das war keine Einzelmaßnahme. Erinnert euch: Die Deutschen sind organisiert, sie denken systematisch. Womit wir es hier zu tun haben, liebe Freunde, ist eine Maschinerie, und diese Maschinerie dient nur einem einzigen Zweck: Das Judentum in Gänze zu vernichten.«

      Nun meldete sich plötzlich Rachel zu Wort. Dank ihrer lauten, festen Stimme gelang es ihr, die wachsende Unruhe zu übertönen. »Natürlich sind wir alle zutiefst verstört durch das, was Sarah uns berichtet hat«, sagte sie. Um sich der Zustimmung der Anwesenden zu versichern, drehte sie sich kurz zu ihnen herum und sah einigen von ihnen flüchtig in die Augen. »Aber wenn du mit deinen Vermutungen richtigliegst, was schlägst du uns dann vor? Wie sollen wir es schaffen zu überleben?«

      Eine Zeit lang schaute Abba in erwartungsvolle Gesichter. Als habe er die Verantwortung gespürt, die nun auf seinen Schultern lag, verlor sich sein kalter Blick in der Unendlichkeit.

      »Wir müssen begreifen«, setzte er wieder an, »dass uns niemand retten wird. Wir sind auf uns allein gestellt.«

      »Dann verschwinden wir«, brüllte jemand in den Raum hinein. »Wir hauen ab, bevor es noch schlimmer kommt.«

      Abba schüttelte den Kopf. »Flucht ist eine Illusion, das werden die Deutschen nicht zulassen.« Nachdenklich kratzte er sich an seinem Kinn. »Deshalb stehe ich heute Abend vor euch: Lasst uns nicht wie Lämmer zur Schlachtbank gehen! Ich sage: Lieber sterben wir als freie Menschen im Kampf, als dass wir durch die Gnade unserer Mörder weiterleben.«

      Jetzt klinkte sich Samuel Posner in die Diskussion ein. Per Handzeichen bat er ums Wort und wartete, bis sich die Unruhe gelegt hatte. »Bei allem, was uns manchmal trennt«, sagte er, »gibt es doch etwas, das uns vereint.« Er klang besonnen, als wollte er gerade einen lebensmüden Mann daran hindern, Selbstmord zu begehen. »Es ist der Glaube. Nicht nur der Glaube an Gott oder der Glaube an das Himmelreich. Nein: Es ist die Überzeugung, dass unser aller Platz in Eretz Israel ist.« Samuel stemmte eine Hand in die Hüfte und zeigte mit der anderen in südöstliche Himmelsrichtung. »Somit ist jeder Kampf, den wir hier austragen, umsonst. Ich plädiere dafür, dass wir unsere Kräfte nicht für eine sinnlose, zum Scheitern verurteilte Sache verschenken.« Jetzt legte auch er eine Kunstpause ein, um dem Schluss seiner Wortmeldung einen besonderen Ausdruck zu verleihen. »Was wir stattdessen tun sollten? In meinen Augen haben wir nur eine Pflicht: so viele Menschen wie möglich zu retten.«

      Auch Ruzka ergriff nun das Wort. Sie war die Erste, die es nicht mehr auf ihrem Platz hielt.

      Leipke überraschte ihre emotionale Reaktion, denn bisher hatte er die junge, auffallend kleine Frau als still und in sich gekehrt erlebt. Doch ihre neue, lebhafte Art gefiel ihm. Schmunzelnd beobachtete er, wie Ruzka schnaufte und mit einer Hand durch ihr braunes Kraushaar fuhr. Vor lauter Wut bekam ihr ohnehin kupferfarbenes Gesicht einen noch rötlicheren Ton, und ihre mandelbraunen Augen, die ansonsten Wärme und Jugend ausstrahlten, sprühten vor Erregung.

      »Weißt du eigentlich, was du da sagst?«, fauchte sie in Samuels Richtung. »Dass wir tatenlos zusehen sollen, wie das jüdische Volk vernichtet wird? Dass wir uns verkriechen sollen wie feige Ratten? Warten, bis alles vorüber ist?« Mit dem Ausdruck größtmöglicher Verachtung schüttelte sie den Kopf. »Wie könntest du jemals wieder jemandem in Eretz Israel in die Augen sehen? Wirst du erzählen, dass du dich versteckt hast, als es darum ging, dein Volk zu verteidigen?«

      Dieser Einwand brachte Samuel zur Weißglut. Nun sprang auch er, der soeben noch sachlich argumentiert hatte, von seinem Stuhl auf und stieg in das erregte Gestenspiel ein. Lautstark brüllten er, Ruzka, Abba und die anderen gegeneinander an. In dem Ratskeller standen sich nun zwei Lager feindlich gegenüber, die die Argumente der Gegenseite in Bausch und Bogen niederschrien.

      Leipke brachte dafür kein Verständnis auf. Eines hatte die Versammlung ihm somit deutlich gezeigt: In der Frage des Widerstands würde in der Jungen Garde so schnell keine Einigkeit herrschen.

      *

      Erst zwei Wochen waren vergangen, seitdem ein Bote ihm den geheimnisvollen Umschlag ausgehändigt hatte. »Wir müssen uns treffen«, hatte in sauberer Handschrift in Großbuchstaben auf einem einzelnen Blatt gestanden. Jetzt saß der Verfasser dieser Botschaft vor ihm.

      Am


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