Blutpharmazie - Im Bannkreis des Voodoo. Andreas Reinhardt

Blutpharmazie - Im Bannkreis des Voodoo - Andreas Reinhardt


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widersetzten sich auch einzelne Völker der aktiven Sklaverei, wie die „Baga“ im heutigen Guinea oder die „Kru“ im heutigen Liberia. Doch wurden nicht staatlich organisierte Völker und freie Siedlungen bevorzugte Ziele von Beutezügen. Entführt oder als Kriegsbeute wartete ein unfreies Leben auf Plantagen, in Sklavenheeren oder als Haussklave, nicht zuletzt infolge der Unterbevölkerung, falls es nicht zu einem Weiterverkauf nach São Tomé, Madeira, Südeuropa, Amerika oder in die Karibik kam. Beim Verbleib in Westafrika bestand zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs, zum Beispiel als königliche Leibwache oder Regierungsbeamter.

      Südeuropa lechzte bereits seit Mitte des 14. Jahrhunderts nach den robusten afrikanischen Sklaven, hatten doch Kriege und die Pest schwer gewütet. Felder für den Nahrungsmittelanbau konnten dort nicht mehr ausreichend bewirtschaftet werden. Besonders der von den Muslimen erlernte Zuckeranbau im Mittelmeerraum, in Portugal und auf den portugiesischen Atlantikinseln nahm zu und verschlang Arbeitskräfte. Portugiesen waren es auch, die um 1471 erstmals bis an die Küste des Akan-Reiches vorstießen – des Goldes wegen. Innerhalb von nur dreißig Jahren kontrollierten sie die Hälfte aller Goldexporte Westafrikas. Und sie bezahlten das von der portugiesischen Krone so heißbegehrte Edelmetall mit Sklaven, welche man im Königreich Benin, im Königreich Kongo oder über den Handelsstützpunkt in Loango an der Küste der heutigen Republik Kongo erwarb. Es waren auch portugiesische Sklavenhändler, die eine etwa sechstausend Kilometer lange Küstenlinie vom Senegal bis nach Angola „Guinea“ oder genauer „Oberguinea“ und „Unterguinea“ tauften – ein Begriff aus der Berbersprache, der so viel bedeutet wie „Land der schwarzen Menschen“. Entsprechend dem jeweiligen Hauptexportgut folgte eine weitere Unterteilung in „Korn-“ oder „Pfefferküste“, „Elfenbeinküste“, „Goldküste“ und „Sklavenküste“. Aber für die Europäer barg diese Küste von Guinea nicht nur finanziellen Segen, sondern auch einen Fluch. So viele von ihnen verstarben an ortstypischen Tropenkrankheiten, dass man schnell vom „Grab des weißen Mannes“ sprach.

      Um das Jahr 1700 traten an die Stelle des Goldes als dem wertvollsten Exportgut des westafrikanischen Küstengebietes endgültig Sklaven.

      Warum ich euch dies alles vortrage, wo es doch längst vergangen ist? Nun, all das macht die Seele Afrikas und der Afrikaner aus. Und nichts ist vergangen, was auch die Gegenwart bestimmt und genauso Vorbote wie Warnung für die Zukunft ist.

      Das Abenteuer des „Wächters der Schöpfung“ Bonifacius Kidjo in diesem Buch ist getränkt von der Vergangenheit. Wieder sind Afrikaner genauso Ausgebeutete wie Kollaborateure. Ihre Leidensfähigkeit, körperliche Robustheit aber auch fehlende Solidarität sowie Machtgier sind entscheidende Elemente, von denen geschäftstüchtige Weiße aus europäischer Blutlinie unverändert profitieren wollen.

      Einst waren es eine „böse“ Natur, bedrohliche Krankheiten, Sklavenhandel und tiefe Spiritualität, heute sind es eine geheimnisvolle Epidemie, ein US-Pharmakonzern und die Kräfte des Voodoo. – Wo also hört Vergangenheit auf und fängt Gegenwart an, endet Unschuld und beginnt Schuld, grenzt sich Fiktion von Realität ab?

      Lest und Ihr werdet vielleicht zu der Erkenntnis gelangen, dass dazwischen gar keine Grenzen zu finden sind und genau mit dieser Erkenntnis auch die Eigenverantwortung beginnt ...

      Hoch oben tauchte die tatendurstig aufgehende Sonne Gipfel und Grade der umliegenden Berglandschaft in verheißungsvoll warme Farben, wurde dafür von einem mehrstimmigen Chor verschiedenster Singvögel freudig willkommen geheißen. Nur widerwillig lüftete der geisterhafte Nebel an den Hängen und auf den Wiesen seine Schleier. Der Frühlingsmorgen in der andalusischen Sierra Nevada folgte damit einem gewohnten Ritual seit Menschengedenken, wie es trotzdem nie zur Gewohnheit werden konnte, sofern es ein Mensch verstand, aus dem tiefen Frieden jenseits zivilisierten Wahnsinns Kraft zu schöpfen.

      Doch im Hintergrund wich etwas von jener eingeschworenen Harmonie ab, ohne dabei als störend ins Gewicht zu fallen – ein eigenwilliges Klangmuster, nicht aufdringlich, aber doch rhythmisch. Bei näherer Betrachtung war es eine schnelle Abfolge dumpfer Krafteinwirkung. Die Quelle wurde vom Nebel eifersüchtig gehütet, so als ginge es um ein Geheimnis. Doch während das zu Hörende – immer wieder variiert und von gelegentlichen Pausen begleitet – sich fortsetzte, gewann die wärmende Sonne immer mehr die Oberhand, gab schließlich den Blick frei auf saftiges Grün.

      Der hochgewachsene, muskulöse Mann von Anfang dreißig bearbeitete einen Sandsack abwechselnd mit Fäusten, Ellenbogen, Knien und Fußtritten. Die Schlag- und Trittkombinationen gegen das robuste Leder mit wohlverdienter Alterspatina erfolgten geschmeidig, koordiniert, auf den Punkt, wodurch selbst dieses vom Ast eines altehrwürdigen Laubbaumes hängende schwere Trainingsgerät in Bewegung versetzt wurde. Der Schweiß lief in Strömen, nährte den Stoff des ärmellosen Sportshirts, während der dunkelhäutige Athlet mit den feinen Gesichtszügen irgendwo zwischen Konzentration und Geistesabwesenheit gefangen zu sein schien.

      Die vierhundert Jahre alte Korkeiche mutete in ihrer Erscheinung – mit der nie geernteten zerfurchten Rinde und den weit ausladenden verknöcherten Ästen – wie ein betagter und vom Leben gepeinigter Boxtrainer an, der seinem Schützling wild gestikulierend Anweisungen zurief. Und tatsächlich begegnete Bonifacius Kidjo diesem Wunder der Natur mit tiefem Respekt, teilte mit ihm seine Gedanken und Sorgen. Genau genommen handelte es sich auch nicht um eine ordinäre Korkeiche von vielen, schon deshalb nicht, weil das Überleben einer solchen in dieser Höhenlage an ein botanisches Wunder grenzte. Ganz alleine stand sie da, getrennt von ihresgleichen. Das Wirken spiritueller Urkräfte stand für den Deutschen außer Frage – einer der Gründe, die ihn vor Jahren zum Kauf des Grundstückes bewogen hatten. Und wenn dieser Methusalem der andalusischen Bergwelt dazu imstande gewesen wäre, so hätte er dem geneigten Beobachter zweifelsohne davon berichten können, was den Schützling unter seinem Blätterwerk zu solch entfesseltem Training anstachelte.

      Bonifacius wurde getrieben von einem Albtraum, einer Vision oder Vorankündigung, die ihn in der vergangenen Nacht ereilt hatte. Nie zuvor hatte er solche Schreckensbilder empfangen, derart surreal und doch irgendwie real. – Während der Journalist seinen Körper weiter forderte, stellte sich sein Verstand nochmals der Ursache für die innere Unruhe:

      Atemlos hetzt der Träumende durch einen düsteren Wald, während feuchtkalter Wind ihm den morbiden Geruch von Krankheit und Tod in die Nase treibt. Unablässig raschelnd regnet es verdorrte Blätter, und substanzlose Schatten scheinen danach zu trachten, den einzigen Menschen an jenem unheilvollen Ort einzukreisen. Bonifacius will umkehren, will entkommen. Doch es liegt nicht in seiner Macht. Der Körper gehorcht nicht mehr dem Überlebenstrieb. Plötzlich sind es schwärzeste Dunkelheit und tropische Pflanzenriesen, welche sich auf ihn zubewegen, dass es ihm die Kehle zuschnürt. Eine Eule überfliegt die Szenerie rückwärts, und eine unsichtbare Macht zwingt ihn, zum dichten Blätterdach emporzuschauen. Die Dunkelheit hat mittlerweile alles zwischen Himmel und Boden in ein alles verzehrendes Schwarz getaucht, hat es geradezu verschlungen. Dann sieht er sie, rot funkelnde Augenpaare. Erst wenige, dann immer mehr. Von weit oben starren sie ihn an – lüstern, bösartig, blutdürstig. Alles an diesem Ort scheint verkehrt zu sein, widernatürlich und feindselig, aus dem göttlichen Gleichgewicht geraten. Wieder versucht Bonifacius in panischer Verzweiflung zu entkommen, sich der Blicke dieser Kreaturen zu entziehen. Doch je größer die Verzweiflung, desto mehr rote Lichtpunkte werden es – ein Sternenzelt direkt aus der Hölle. Er weiß, es geht um ihn. Schließlich fügt er sich in sein Schicksal, stellt jede Anstrengung ein, erwartet das Unvermeidliche. Jetzt erst werden die Lichtpunkte größer, immer größer. Was auch immer sich hinter ihnen verbirgt, es kommt langsam aber unaufhaltsam näher. Ohne die Chance auf Flucht erwacht der Kampfgeist in dem Gefangenen des eigenen Traumes. Sein entschlossener Blick fällt auf die gesichtslosen Kreaturen, die augenblicklich innehalten. Deren Augenpaare verschwinden so spurlos, wie sie zuvor erschienen sind.

      Als wäre im Bruchteil einer Sekunde eine neue Theaterkulisse aufgezogen worden, präsentiert sich im Wald ein gänzlich neues Schauspiel, wenngleich nicht weniger surreal und verstörend.


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