Desert Hearts. Jane Rule

Desert Hearts - Jane Rule


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das Sonnenlicht blinzelte. Er erinnerte Evelyn an die vielen namenlosen jungen Leute, die sich im Hintergrund ihres Hörsaals irgendwie bequem in den beengenden Sitzbänken rekelten, Tag für Tag und Jahr für Jahr, sich wiederholend und ausbreitend wie Immergrün.

      »Zeigst du bitte Mrs. Hall ihr Zimmer, mein Lieber?« Dann wandte sie sich freundlich an Evelyn: »Abendessen gibt’s um fünf.«

      »Das ist gut. Dann habe ich gerade noch Zeit, mich frischzumachen.«

      Der Flur oben roch leicht nach Weihrauch, aber es war kühl. Das Zimmer, in das Walter Evelyn führte, war groß und laubgesprenkelt. Das Doppelbett war modernisiert worden, das Holzteil des Kopfendes war entfernt und durch das des Fußendes ersetzt worden, so dass das Bett behaglich und weniger bedeutungsschwanger seinen Platz einnahm, nicht länger Schauplatz der Zeugung, sondern jetzt einfach ein Ort zum Ausruhen. Den Raum beherrschte der alte Schreibschrank in der Ecke. Kein Sozialpsychologe hätte einen geeigneteren Wohnraum entwerfen können.

      »Das Badezimmer ist gleich nebenan. Da müssten auch saubere Handtücher im Wandschrank sein«, sagte Walter, als er einen Koffer auf das Gepäckbord am Fußende des Bettes, den anderen quer über die Armlehnen eines Sessels legte. »Rauchen Sie nicht im Bett. Eine Feuerleiter gibt es nicht. Tun Sie abgeschnittene Zehennägel in den Aschenbecher. Und halten Sie keine Haustiere. Essenszeiten und andere Regeln der Hausordnung stehen in dem gedruckten Faltblatt in der Gideon-Bibel neben dem Bett. Noch Fragen?«

      Evelyn lächelte ihn belustigt an, dankbar für seinen Unsinn, ohne jedoch eine passende Antwort parat zu haben. Außerhalb des Hörsaals war sie Heranwachsenden gegenüber nie schlagfertig gewesen.

      »Aber ich habe eine Frage«, fuhr er fort. »Wir hatten eine Diskussion. Ich habe meiner Mutter gesagt, sie soll Dr. Hall zu Ihnen sagen. Das ist doch Ihr richtiger Titel?«

      »Das spielt keine Rolle«, gab Evelyn zurück. Sie war eine der wenigen Frauen, die sie kannte, die das »Mrs.« dem »Dr.« vorzogen, vielleicht weil ihre Ehe schwieriger zu erreichen und zu erhalten gewesen war als ihr Doktortitel. Außerdem war George in diesem Punkt sehr empfindlich gewesen. Walter hatte natürlich recht. Dr. war jetzt ihr einziger »richtiger« Titel. Aber es schien eine zu einfache Lösung, oder eine zu ironische.

      »Wenn Sie um ungefähr Viertel vor runterkommen – Sie hätten dann noch fünfzehn Minuten –, gibt’s im Wohnzimmer einen Sherry.«

      »Wunderbar. Danke.«

      Als Walter die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm Evelyn ihren Hut ab und öffnete einen Koffer, um ihre Kosmetiktasche herauszunehmen. In dem großen, sauberen altmodischen Badezimmer entdeckte sie die Quelle des Weihrauchgeruchs. Ein Lufterfrischer oder ein Tannenduftspray hätten sie deprimiert, aber Weihrauch, das war ihre Großtante Ida, keusch und kämpferisch, die in einem Haus ähnlich diesem gelebt hatte – mit nichts als ihrer königlichen Jungfräulichkeit war sie des hausherrlichen Schlafgemachs Herrin geworden, würdig des unveränderten Schauplatzes ihrer Empfängnis. Ihr Badezimmer, genau wie dieses, hatte Evelyn als Kind fasziniert, aber sie hatte niemals den Weihrauch benutzen dürfen. Wie Schnupftabak, wie Wein, wie Parfüm, war er den Erwachsenen vorbehalten. Obwohl Evelyn nicht die Absicht hatte, die Luft mit mehr als dem Geruch ihrer Seife zu belasten, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, eines der dünnen Stäbchen anzuzünden und in den Halter zu stecken – eine Kerze der Erinnerung an Ida, deren körperliche Gegenwart sie beschwor. Aber der in dem geschlossenen Raum sich verdichtende Duft reizte ihre Kehle. Sie musste das Stäbchen löschen. »Ach, Ida«, sagte sie weich, »es ist wahr, was du immer gesagt hast: Wir sind eine schwächere Generation.« Als Evelyn die Badewanne betrachtete, lang, tief, klauenfüßig, wurde ihr bewusst, wie gern sie gebadet hätte, aber es blieb keine Zeit mehr. Nach dem Abendessen würde sie Muße haben.

      Als sie, zwar noch nicht ganz erfrischt, aber etwas abgekühlt und gesäubert, die Treppe hinunterging, klangen vergnügte Stimmen aus dem Wohnzimmer. Es mochte schließlich doch eine angenehme Bleibe sein. Dass sie sich hier amüsieren könnte, wäre ihr vorher nicht im Traum eingefallen, und so pietätlos sie es auch fand, sie tadelte sich nicht.

      »Wir haben also Familienzuwachs?« Es war die Stimme einer Frau, jung, spöttisch, amüsiert. »Diesem Hause geboren wie jede von ihnen, erwachsen und weiblich, entsprungen aus unseres All-Vaters gemartertem Haupt. Und sie sieht aus wie ich.«

      Es waren nur zwei Personen im Raum, Walter, der Mühe hatte, aus einem tiefen Sessel hochzukommen, und die junge Frau, deren Stimme Evelyn gehört hatte. Sie stand vor dem Erkerfenster in einem Käfig aus Sonnenlicht. Evelyn lächelte betont belustigt und nicht gekränkt, denn die Frau war so jung wie ihre Studentinnen und Studenten, aber als sie sich ihr verlegen und mit sich entschuldigender Geste zuwandte, war Evelyn verblüfft.

      »Dr. Hall, das ist Ann Childs«, stellte Walter vor. »Wie wär’s mit einem Sherry? Möchten Sie eine Zigarette?«

      »Danke«, sagte Evelyn. »Hallo, Ann.«

      »Hallo.« Ann starrte sie an.

      »Da gibt’s einen Vers von Cummings«, sagte Evelyn. »›Hallo, das sagt ein Spiegel …‹«

      »Wir sehen uns wirklich ähnlich«, sagte Ann. »Frances hatte recht. Oder etwa nicht?«

      »Ja, sehr. Verblüffend.«

      »Glauben Sie, wir sind verwandt?«, fragte Ann.

      »Möglich«, antwortete Evelyn, aber sie glaubte es nicht. Das war keine Familienähnlichkeit, wie etwa ein schiefer Eckzahn oder die überrascht hochgezogene linke Augenbraue, die Geschwister von einem gemeinsamen Großelternteil ererbt haben. Es war eher ein Eindruck, der, wenn analysiert, jeder festen Grundlage entbehrte. Anns Gesicht war für Evelyn Erinnerung, nicht Ähnlichkeit. »Aber wahrscheinlich nicht.«

      »Nein«, sagte Ann, deren eigene Sicherheit schwand. »Walter sagt, dass Sie in Kalifornien unterrichten?«

      »Stimmt.«

      »Welches Fach?«

      »Englisch.«

      Walter reichte Evelyn ein Glas Sherry. Als sie sich setzte, setzte er sich auch, aber auf einen Stuhl, der ihn am Rande der Konversation halten würde. Ann blieb stehen. Vielleicht war es die Anspannung, zu ihr aufzuschauen, vielleicht war es der Sherry: Evelyn verspürte eine ganz und gar nicht unangenehme Benommenheit im Kopf. Sie hatte Schwierigkeiten, den Fragen Anns zu folgen und sie zu beantworten. Und da sie eher hinsah als hinhörte, dachte sie, wie ungewöhnlich doch die Kleidung der jungen Frau sei. An diesem heißen Spätnachmittag trug sie robuste schwarze wollene Hosen, schwarze Stiefel und ein leuchtend blaugrünes langärmeliges Hemd. Evelyn war noch nicht im richtigen Westen gewesen, aber sie nahm an, dass eine solche Kluft Rodeos vorbehalten sei.

      »Meinen Sie nicht auch?«, schloss Ann eine Frage, die irgendetwas mit Symbolismus und Yeats zu tun hatte.

      »Entschuldigung, ich habe gerade Ihr Hemd bewundert.«

      Ann schaute an sich herunter. »Das ist eine Uniform. Ich arbeite in FRANK’S CLUB – Nachtschicht.«

      »In dem FRANK’S CLUB?«

      »Richtig.«

      »Was tun Sie da?«

      »Ich bin Wechselmädchen.« Als Evelyn sie verwirrt anblickte, erklärte Ann: »Ich wechsle den Kunden an den Spielautomaten ihre Geldscheine in Münzen.«

      »Ach ja?« Evelyn konnte ihre Überraschung und ihre Belustigung nicht verbergen. »Wie sind Sie an den Job gekommen?«

      »Ich bin da schon vier Jahre«, antwortete Ann. »Ich lebe hier.«

      »Sie könnte als Spielhalterin arbeiten«, sagte Walter, »aber sie will nicht, die dumme Nuss. Nur dabei können Frauen das große Geld verdienen.«

      Evelyn sah ihre unwillkürlichen Vermutungen in Anns Augen aufblühen und verwelken wie umgepflanzte blühende Tulpen. Wenn Ann nicht hier war, um sich scheiden zu lassen, wenn sie in Reno lebte, warum war sie dann in diesem Haus? War sie verwandt mit den Packers?

      »Da kommt Virginia«, sagte Walter


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