Miryams Geheimnis. Ruth Gogoll

Miryams Geheimnis - Ruth Gogoll


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geht? Oder lehnen Sie jede Hilfe grundsätzlich ab? Aus Prinzip?«

      »Ich brauche keine Hilfe«, erwiderte Ella automatisch.

      »Aber ich«, sagte Miryam. »Mit meiner Schwester. Die zwar genauso jung ist wie Sie, aber auf keinen Fall so arbeitsam. Da ich den ganzen Tag nicht zu Hause bin, brauche ich jemand, der auf sie aufpasst. Sie sollte eigentlich studieren, aber das tut sie nicht. Vielleicht braucht sie einfach nur das richtige Vorbild.«

      »Ich studiere nicht mehr«, erklärte Ella noch einmal. »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

      »Aber Sie würden, wenn Sie könnten.« Miryams Logik war wirklich schwer etwas entgegenzusetzen. »Meine Schwester könnte, aber sie tut es nicht.«

      »Ich kenne Ihre Schwester ja noch nicht einmal.« Ellas Widerstand ließ nach. Jetzt nach dem Unfall hatte sie nicht die Kraft, solche Diskussionen zu führen.

      Außerdem befand sie sich ganz eindeutig in einer Zwickmühle. Und Miryam baute ihr eine Treppe nach draußen. Sie verstand nur nicht, warum.

      »Erlauben Sie, dass ich mit dem Arzt rede?«, fragte Miryam mit leicht schiefgelegtem Kopf. »Ich möchte gern abklären, was Sie zu Hause noch an Versorgung brauchen.«

      Wenn sie von dieser Diskussion nicht schon so erschöpft gewesen wäre, hätte Ella am liebsten die Augen gerollt. Ein Nein schien diese Frau nicht zu akzeptieren.

      Aber was für Alternativen hatte sie? Sie wollte unbedingt das Krankenhaus verlassen. Und wenn sie es einmal logisch betrachtete, konnte sie sich zu Hause allein wohl kaum versorgen. Geschweige denn Inka. Miryam rollte ihr sozusagen den roten Teppich aus.

      Auf der anderen Seite war es genauso, wie Miryam gesagt hatte. Es fiel Ella schwer, Hilfe anzunehmen. Sie wollte alles allein schaffen. Immer wenn sie Hilfe annehmen musste, fühlte sie sich wie eine Versagerin.

      Doch dann dachte sie wieder an Inka. Sie musste sich nicht nur Gedanken um sich selbst machen. Sie hatte darüber hinaus eine Verantwortung für die kleine Hündin, die ihr schon so viel Trost und Liebe gegeben hatte. Sie konnte sie nicht im Stich lassen.

      »Na gut.« Sie atmete tief durch und seufzte. »Wenn das irgendwie möglich ist, dass ich Inka bei mir haben kann, habe ich wohl keine andere Wahl.«

      Ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf Miryams Lippen. »Gut, dass Sie das einsehen. Ich glaube, das ist wirklich das Beste für alle Seiten.« Schon wieder etwas in Eile blickte sie auf ihre Uhr. »Und ich muss gleich zu einem Termin.«

      Was auch sonst? Fast hätte Ella nun innerlich den Kopf geschüttelt. Du bist doch immer auf dem Sprung.

      Miryam war schon fast an der Tür. »Ich schaue mal, ob ich den Arzt erwische. Das mit den Entlassungspapieren dauert ja auch immer eine Weile.«

      Ella nickte nur. Viel mehr konnte sie auch nicht tun, denn Miryam war schon auf den Gang hinaus verschwunden.

      Als Ella nun so allein zurückblieb, gingen ihr langsam ein paar Dinge durch den Kopf, die eben vor lauter Diskussion und Aufregung keinen Platz gefunden hatten, sich zu melden.

      Die Situationen überstürzten sich einfach zu sehr. Das war normalerweise nicht die Art, wie sie lebte. Sie hatte zwar viel zu tun, hetzte von einem Job zum anderen, aber sie hatte immer einen Plan. Und Ordnung war ein wichtiger Teil ihres Lebens. Vielleicht weil sie immer das Gefühl gehabt hatte, sie hätte keine Kontrolle über das, was mit ihr geschah, versuchte sie, seit sie allein lebte, immer die Kontrolle zu behalten.

      Aber seit diesem dummen Unfall hatte sich das alles geändert. Was sollte sie machen? Auf einmal war sie auf eine Art abhängig, wie sie es nie hatte sein wollen.

      Sie saß zwischen Baum und Borke. Sie konnte im Krankenhaus bleiben und eine große Rechnung anhäufen oder sie konnte Miryams Vorschlag annehmen und zwar keine reale, aber eine Rechnung in ihrem Kopf anhäufen.

      Die dritte Möglichkeit war, sie ging in ihre eigene Wohnung zurück. Aber wer sollte sie dort versorgen? Sie und Inka.

      Erneut holte sie tief Luft und atmete wieder aus. Manchmal half das beim Denken. Besonders in einer Situation, die so wenig Auswege zum Denken ließ.

      Aber wie sie es auch drehte und wendete, es öffnete sich kein Schlupfloch. Solange sie im Krankenhaus war, war sie völlig hilflos. Und konnte sich nicht um Inka kümmern.

      Langsam ließ sie sich ins Kissen zurücksinken und starrte an die Decke.

      Auch wenn Miryam sie jetzt etwas überrumpelt hatte, konnte sie bei ihr im Haus vielleicht über eine andere Lösung nachdenken.

      Hier im Krankenhaus war ihr das nicht möglich.

      6

      Sie ist wirklich unerbittlich. Miryam lächelte. Und dabei fiel ihr auf, dass sie fast immer lächelte, wenn sie an Ella dachte. Dass sie oft amüsiert wirken musste, wenn sie mit ihr sprach. Das war etwas völlig Neues.

      Auf jeden Fall hatte sie sich nicht getäuscht. Ihr Leben unterschied sich von dem von Ella wie der Tag von der Nacht. Anscheinend war sie arm wie eine Kirchenmaus. Miryam wusste nicht, ob sie überhaupt schon einmal so jemanden kennengelernt hatte. Jemanden, der sich noch nicht einmal eine Krankenversicherung leisten konnte.

      Leute, die aus dem Ausland stammten, natürlich schon. Flüchtlinge, Asylanten, Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben nach Deutschland kamen. Aber Deutsche, die hier aufgewachsen waren? Da war sie immer davon ausgegangen, dass die alle eine Krankenversicherung besaßen, und wenn eine vom Sozialamt. Außer Obdachlose vielleicht.

      Aber zu dieser Gruppe gehörte Ella Cziebinsky gewiss nicht. Ihr Name klang polnisch, aber es gab ungeheuer viele Menschen mit polnischen Nachnamen, deren Familien schon seit Generationen in Deutschland lebten. Alles, was sie noch mit Polen verband, war wahrscheinlich nur genau dieser Name.

      Miryam hatte schon öfter sehr blonde Polinnen gesehen, und auch Ella war so blond. Ein sehr blonder Typ. Helle Haut, helle Augen und helle Haare. Miryam selbst empfand sich eher als eine Art Mischform. Ihre Augen waren zwar hell, wenn auch nicht blau, doch ihre Haare waren dunkel. Auch hatte ihre Haut einen fast olivfarbenen Ton, sobald sie mit den Strahlen der Sonne in Berührung kam.

      Ellas Haut musste weich wie die eines Kindes sein . . .

      Ich sollte mich wirklich schämen. Miryam verzog das Gesicht. Sie bewunderte Ella dafür, wie sie ihr Leben mit all diesen Hindernissen, die Miryam nie gekannt hatte, meisterte. In einer Konsumwelt, in der alles seinen Preis hatte, am Rande des Existenzminimums lebte, und weder ihren Stolz noch ihre Würde verloren hatte.

      Auf einmal lächelte sie fast noch mehr. Ella war sehr stolz. Ja, das war sie. Wollte keinen Cent annehmen, den sie sich nicht selbst erarbeitet hatte. Das beeindruckte Miryam sehr, denn sie kannte viele Leute, für die eher das Gegenteil galt. Die gern die Hand aufhielten, ohne das Gefühl zu haben, etwas dafür tun zu müssen. Die meinten, sie hätten das Recht dazu, obwohl sie nie etwas dafür getan hatten, es sich zu verdienen.

      Vielleicht war es das, was sie so für Ella einnahm. Sie strahlte nicht nur diese gewisse Art von Unschuld aus, sondern auch Ehrlichkeit. Sicherlich litt sie sehr darunter, dass sie nun auf einmal auf die Hilfe Fremder angewiesen war. Fremder wie Miryam. Sie wollte lieber für sich selbst sorgen. Für sich und ihre Hündin.

      Aber irgendwann einmal im Leben war man doch immer auf andere angewiesen. Das musste auch sie lernen.

      Und Miryam sah nicht ein, warum sie das nicht in ihrem Haus lernen sollte.

      Deshalb würde sie sie jetzt dort hinbringen.

      7

      Ella wusste nicht genau, was sie erwartet hatte. Vielleicht hatte sie sich auch nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht. Aber als Miryam von ihrem Haus gesprochen hatte – auch wenn sie gesagt hatte, es wäre ein großes Haus –, hatte Ella sich nicht gerade dieses Fast-Schloss vorgestellt, in dem sie jetzt angekommen waren.

      Geradezu entgeistert


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