Vom Verlust der Freiheit. Raymond Unger

Vom Verlust der Freiheit - Raymond Unger


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und Kontrolle, Wut, Arroganz, Kritik und Tadel, Verurteilung anderer, Moralisieren, Verachtung, gönnerhaftes Verhalten, Sich-Kümmern und Helfen, Neid, Nettigkeit und Gefälligkeit. Alle diese Verhaltensweisen sind auf andere Menschen konzentriert und lenken vom der eigenen Person ab. […] Das Streben nach Macht ist ein direkter Versuch, Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Wenn man Macht über andere hat, kann man nicht so leicht der Scham ausgesetzt werden. Das Machtstreben wird häufig zu einer Lebensaufgabe, der sich ein Mensch total verschreibt. In seiner neurotischsten Form wird es zu einer absoluten Sucht. Die Menschen widmen dann ihre ganze Kraft der Aufgabe, durch raffinierte Manöver eine Position zu ergattern, vor der aus sie die Leiter des Erfolgs weiter nach oben klettern können. […] Eltern, Lehrer, Doktoren, Rechtsanwälte, Pfarrer, Rabbiner und Politiker spielen Rollen, die etwas mit Macht zu tun haben.

       Die Leute, die mit der Macht spielen, versuchen ständig, ihre Macht über andere auszudehnen. Sie suchen sich häufig Berufe aus, die ihnen Macht geben, und sichern ihre Position ab, indem sie andere Leute für sich arbeiten lassen, die schwächer und weniger selbstsicher sind. Solche Menschen sind absolut nicht in der Lage, die Macht mit anderen zu teilen. Eine Teilung der Macht würde Gleichheit bedeuten –und sie können sich nur gut fühlen, wenn sie anderen überlegen sind. Für den Machthungrigen bedeutet Macht ein Mittel, sich gegen weitere Scham abzusichern. Dadurch, dass man Macht über andere hat, kann man die Rolle umkehren, die man in der frühen Kindheit gespielt hat. Zu den Strategien der Macht gehört oft auch, dass man versucht, sich in aktiver Weise zu rächen.« 15A

      Bradshaw skizziert mit dem schamgebundenen Charakter den Prototyp des erfolgreichen Mainstreamkarrieristen, der insbesondere eine zentrale Machttechnik beherrscht: Politische Korrektheit. Im Kapitel Gender komme ich darauf zurück. Insbesondere bei vielen Vertretern der Kunst-, Medien- und Politiker-Eliten fällt dieser Typus auf. Dieser Charakter dominiert weder durch Schönheit, Charme, Fachkenntnis oder Intelligenz, sondern durch soziale Bauernschläue und Ausdauer. Politische und ideologische Gegner werden mit großer Treffsicherheit verblüfft und unter Zuhilfenahme von Moralen und jenseits der Fakten effektiv diskreditiert und beschämt. Vortrefflich studieren lässt sich diese Methodik in vielen Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender. Hier werden missliebige Positionen entweder gar nicht erst zugelassen, oder deren Vertreter werden brüsk unterbrochen, moralisch belehrt und beschämt. Und wehe ein Journalist handelt einmal nicht im Sinne der politisch korrekten Direktive und lässt ideologischen Gegnern etwas Raum für die eigene Meinung … Das Mindeste sind nachträgliche Entschuldigungen, möglicherweise ist der nicht ganz linientreue Journalist aber auch gleich seinen Job los. Gewinner auf der politisch-medialen Bühne sind insbesondere jene Typen von Babyboomern, die früh gelernt haben, wie man unliebsame innere Affekte und Ambivalenzen über Projektionen loswird. Wer den Kontakt zu seinem wahren Selbst verloren hat, ist ohnehin nicht sonderlich zimperlich und nicht gerade ein Ausbund an Empathie. Übertriebene, gespielte Empathie für Minderheiten und Randgruppen dient eher dem eigenen Machtausbau und stellt einen Missbrauch der wirklich Hilfsbedürftigen dar.

      Fazit: Toxische Scham lässt sich effektiv übertagen, indem man den internalisierten Anteil, der einen permanent selbst beschämt, auf andere umlenkt. Die unliebsame innere Stimme, die einen moralisch diskeditiert, belehrt und maßregelt, richtet sich fortan auf politische und ideologische Gegner. Als Nebeneffekt lässt sich das Kleinmachen anderer als persönlicher Machtgewinn nutzen.

       »Paradoxerweise gelingt Identitätsbildung im Falle Deutschlands nicht durch die Produktion von Stolz auf Errungenschaften, sondern durch die Akzeptanz eigentlich unakzeptierbarer Schande und das Eingeständnis eigentlich uneingestehbarer Schuld. So wird auf nahezu geniale Weise Schande zu Ruhm ›rezykliert‹. Mit postheroischer Grandeur wird Schuld in Schuldstolz verwandelt. Schuldstolz ist ein moralischer Stolz darauf, die Kraft zu haben, die größtmögliche Schuld zu verinnerlichen und sich mit der Verantwortung dafür zu identifizieren.« 16

      Das transgenerationale Kriegstrauma erzeugt zwei innerpsychische Grundverfassungen:

      1. Internalisierte Scham- und Schuldgefühle

      2. Ein unendlich bedürftiges Ego

      Der zwangsläufig ablaufende Selbstheilungsversuch narzisstischer Persönlichkeiten besteht darin, Honig aus dem Defizit zu saugen. Schuldstolz ist das Ergebnis dieses Prozesses. Grundsätzlich muss die narzisstische Persönlichkeit viel Energie aufwenden, um den verleugneten, unbewussten Selbstwertmangel auszugleichen. Permanenter Zuspruch von außen ist ein Muss. Allgemein positiv bewertete Mainstreamnarrative zu bedienen, um damit Lob und Anerkennung einzuheimsen, stillt die Seelenpein nur bedingt. Innerpsychische Anteile sind um Ganzheit und Ausgleich bemüht, Schuld und Scham müssen in einer neuen Legende recycelt und einer neuen Bewertung zugeführt werden. Da die totale Verleugnung internalisierter Scham unmöglich ist, bleibt der Psyche ein anderer, genialer Kunstgriff: Durch Überhöhung und ostentative Anerkennung von Schuld – bei gleichzeitiger Projektion und Kollektivierung – kann das Ego viel Zuspruch für seinen »Mut« und seine »Kraft« erwarten, welche die Vergegenwärtigung der großen »Verantwortung« mit sich bringt, um zukünftige Schuld zu verhindern. Schuldstolz ist daher Labsal für die toxisch beschämte Seele. Egal zu welchem Thema – es gibt praktisch keine Rede deutscher Politiker, in der nicht mit sauertöpfischer Miene auf die große Schuld und Verantwortung Deutschlands hingewiesen wird. Wenn Deutschland seine große Schuld bezüglich der Klimakrise nicht annimmt und sofort die Vorreiterrolle in der Klimapolitik übernimmt – wer dann?, sagen Politikerinnen wie Katrin Göring-Eckardt. Meint: Ohne Deutschland würde die Welt untergehen. Zwar macht der deutsche Anteil der CO2-Emissionen lediglich 2 Prozent aus und Giganten wie Russland, China, USA, Indien und Brasilien denken im Traum nicht daran, es Deutschland gleichzutun – aber egal. Wer, wenn nicht Deutschland, kann und wird die Welt retten? Das fühlt sich schon mal ziemlich groß(artig) an.

      Grandiosität und Größe, die das bedürftige narzisstische Ego so dringend braucht, können also über das Anerkennen von Schuld generiert werden. Das ist jedoch nicht alles. Ein großes Problem bei der Weitergabe des transgenerationalen Kriegstraumas ist ein Mangel an persönlicher Identität. Wie bereits ausgeführt, können Kinder ohne die zugewandte Spiegelung von reifen Erwachsenen nicht wissen, wer sie sind. Auch wenn zeitgenössische Narrative noch so sehr den Begriff der Identität dekonstruieren und verleugnen – jeder Mensch braucht Identität. Einen Bezugsrahmen, etwas, womit sich das Ich rückhaltlos identifizieren kann. Und wenn dies nichts Gutes sein kann, weil das Gute in der eigenen Kindheit kaum gespiegelt wurde, dann ist es eben das Schlechte. Schuld, beziehungsweise rezyklierte Schuld in Schuldstolz, wird schließlich zur neuen Identität; dies gilt auch für das Kollektiv.

       »Dabei ist übertriebener Nationalstolz tiefenpsychologisch gesehen dasselbe wie übertriebener Nationalhass: Im ersten Fall erfolgt eine Identifizierung mit den positiven Eigenschaften, im zweiten Fall mit den negativen. In beiden Fällen erfährt das zu schwach entwickelte Ich über Identifikation Aufwertung und Größe. Dass eine grüne Bundestagsvizepräsidentin bei einer Anti-AfD-Demonstration mitläuft, auf der »Deutschland, du mieses Stück Scheiße« und »Deutschland verrecke« skandiert wird, ohne sich hinterher davon zu distanzieren, zeigt, wie selbstverständlich eine negative Identifikation ist. Hass ist das Gegenteil von Liebe, setzt Erstere aber voraus. Natürlich ist es für linke Ideologen und Antideutsche schwer zu ertragen, sie der übertriebenen (invertierten) Vaterlandsliebe zu überführen, dennoch verhält es sich tiefenpsychologisch gesehen genau so.« 17

      In Bezug auf kollektive Prozesse, also auf Deutschlands Identitätsbildung als Nation, funktioniert dieser Mechanismus einwandfrei. Jeder Politiker, der heute noch eine positive Identifikation mit deutschen Tugenden anregt, und derlei gäbe es ja durchaus, kann nur ein rechter Buhmann sein. Identifikation mit Deutschland im Sinne einer nationalen Erzählung und Identitätsbildung ist einzig als Negation erlaubt. Die sündhafteste, abgründigste Nation, die den größten Zivilisationsbruch aller Zeiten beging, hat zwei Generationen später die Kraft gefunden, die übergroße Schuld anzusehen. Das ist irgendwie – groß. So groß, dass man mit dem


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