Ray Bradbury - Poet des Raketenzeitalters. Hardy Kettlitz

Ray Bradbury - Poet des Raketenzeitalters - Hardy Kettlitz


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sieht immer gleich aus: morgens essen mit der Mutter, tagsüber lernen mit der Lehrerin und abends wieder spielen mit der Mutter. Den Jungen verwundert es auch nicht, dass die Lehrerin immer eine Kutte trägt, bei der ihr Gesicht im Schatten bleibt. Nur einmal kommt es ihm seltsam vor, dass sich Mutter und Lehrerin noch nie begegnet sind. In den Lehrbüchern des Jungen fehlen viele Seiten und einige Textpassagen wurden geschwärzt, damit er nichts über die Welt draußen erfährt. Die Mutter beantwortet ihm auch nicht die Frage, was es bedeutet, tot zu sein. Zu jedem Geburtstag darf Edwin ein weiteres Zimmer des Hauses erstmals betreten, doch einmal schleicht er sich heimlich auf den Dachboden und kann von dort aus durchs Fenster einen riesigen Raum sehen, der sein Universum umgibt.

      Eines Tages stürzt die Mutter im Wohnzimmer zu Boden und bewegt sich nicht mehr. Edwin gerät außer sich und versucht die Lehrerin zu finden, doch auch diese ist verschwunden. Es verwirrt den Jungen sehr, dass seine Mutter einen Handschuh der Lehrerin in den Händen hält. Weil er nicht weiß, was er machen soll, verlässt er erstmals in seinem Leben das Haus.

      Ein Polizist beobachtet den Jungen, wie er durch die Straßen rennt und dabei ruft: »Ich bin tot, ich bin tot, ich bin froh, dass ich tot bin …«

      Die auf die Spitze getriebene Sorge der Mutter um ihren Sohn, die jeden Kontakt mit der Außenwelt unterbindet, versagt dem Kind das Wissen um die Welt außerhalb des Hauses. Die Ungeheuer, die den Vater getötet haben und deren Gebrüll man gelegentlich hört, sind die Autos, die Edwin nie gesehen hat. Diese Erkenntnis gewinnt der Leser jedoch nur nach und nach. Ebenso dass es sich bei Mutter und Lehrerin um ein und dieselbe Person handeln muss. Der Junge ruft am Ende, dass er tot sei. Dabei setzt er Tod mit Freiheit gleich, da er dem Eingesperrtsein entronnen ist. Bereits im Laufe der Geschichte äußert das Kind Unzufriedenheit über die Beschränkungen seiner »Welt« und versucht mit seinen kindlichen Mitteln, der Obhut der Mutter zu entfliehen.

      Erst durch den Schlusssatz, als Edwin ruft, dass er tot ist, entsteht der Verdacht, dass der »tote« Vater, der von der Mutter zum Gott erhoben wurde, vielleicht gar nicht gestorben ist, sondern durch die Flucht aus dem Haus und vor der Mutter die Freiheit erlangt haben könnte.

      Die Erzählung ist ein wirkliches Meisterwerk, das man durchaus mehrfach und in unterschiedlichen Lesarten genießen kann. Es ist sehr schade, dass der Text nur einmal in einer Anthologie in deutscher Sprache erschienen ist.

      (1947 in Dark Carnival)

      Diese Geschichte wurde später in den Roman From the Dust Returned integriert. Lesen Sie dazu Kapitel 9.1.

      (1947 in Dark Carnival; dt. »Kulissen in der Nacht«)

      Dieser Text von nur zwei Seiten in der deutschen Ausgabe schildert eine nächtliche Szene mit Filmkulissen, die im Laufe der Zeit verwittert sind und von denen die Farbe abblättert. Mitten in den Kulissen treffen sich zwei Männer, ein älterer und ein jüngerer, wobei der jüngere den älteren gesucht und nun nach längerer Zeit wiedergefunden hat. Er versucht den Älteren zu überreden, wieder nach Hause zu kommen, doch der Ältere besteht darauf, hier an dieser Stelle zu bleiben, weil er sich hier wohlfühlt und sich bei seiner Familie immer fremd vorkam. Als er sich abwendet, sieht man auf seiner Rückseite, dass er nur aus Latten und Klammern besteht, die die Pappmaschee-Vorderseite zusammenhalten.

      Offenbar haben Einsamkeit und Entfremdung von den Freunden den Mann ausgehöhlt und ihn zu etwas ähnlich Traurigem und Nutzlosem gemacht, wie alte Filmkulissen es sind. Ein sehr melancholischer Text.

      (1947 in Dark Carnival, auch in The Small Assassin und The Stories of Ray Bradbury; dt. »Die nächste in der Reihe«)

      Ein amerikanisches Ehepaar – Joseph und Marie – macht Urlaub in Mexiko. Sie besichtigen alle Sehenswürdigkeiten und werden Zeuge der Feierlichkeiten zum »Tag der Toten«. Joseph will auch unbedingt die Mumien anschauen, die auf dem städtischen Friedhof zu besichtigen sind. Er überredet seine Frau zu diesem Ausflug, auch wenn sie eigentlich keine Lust dazu hat. Dort angekommen erzählt der Friedhofswärter, dass die Leichen ausgegraben und in einer Gruft aufgestellt werden, wenn die Angehörigen die Grabstelle nicht mehr bezahlen können. Es ist ein grausiger Anblick, und der Friedhofswärter kann zu fast jeder Mumie etwas erzählen. Joseph fotografiert eifrig, doch Marie packt das Grauen. Sie will unbedingt die Stadt verlassen und möglichst weit weg von den Mumien sein. Sie überredet Joseph, dass sie noch am selben Tag abreisen, doch das Auto geht kaputt, und es wird Tage dauern, bis die nötigen Ersatzteile beschafft sind. Marie erstarrt geradezu vor Entsetzen, zumal ihr Mann in seiner Faszination für die Toten ihr immer fremder wird. Schließlich nimmt sie Joseph das Versprechen ab, dass er sie niemals in diesem Ort lassen wird, wenn sie sterben sollte. Er witzelt noch, dass sie doch eine wunderschöne Mumie abgeben würde, aber da ist sie auch schon in eine Angststarre verfallen.

      Am Ende der Geschichte fährt Joseph allein nach New York zurück. Der Leser kann sich also denken, was Marie widerfahren ist, ohne dass Bradbury explizit davon erzählt.

      Die Geschichte mutet etwas altmodisch an, jedoch wird das Grauen, dass die Protagonistin empfindet, durchaus verständlich.

      Bradbury benutzte die gleiche Kulisse, also Mexiko, die Katakomben und die Mumien, fast gleichzeitig in der Erzählung »The Candy Skull« (Januar 1948 in DIME MYSTERY; siehe Kapitel 2.3).

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